Die Ausgrenzung entmündigt die Wähler
Die CDU hat ihre nächste «Brandmauer»-Diskussion, und dieses Mal dürfte es der Parteizentrale deutlich schwerer fallen, die erwünschte Kontaktsperre von Berlin aus durchzusetzen. Gegen das Verbot einer Zusammenarbeit mit der AfD hat bisher niemand in der Partei ernsthaft aufbegehrt, aber beim Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) kippt die Stimmung. Für die deutsche Politik sind das gute Neuigkeiten: nicht weil Frau Wagenknecht vernünftige Vorstellungen hätte, sondern weil der Wählerwille bei der Regierungsbildung nur noch eingeschränkt zur Geltung kommt.
Im Herzen der Demokratie steht der Machtverlust. Der Souverän kann seine Regierung, wenn er unzufrieden ist, auswechseln. In Deutschland ist dieses Prinzip durch die Brandmauern de facto ausser Kraft gesetzt. Wer bei der nächsten Bundestagswahl beispielsweise CDU wählt, weil er sich eine Korrektur der linken Politik wünscht und SPD und Grüne deshalb nicht mehr in der Regierung sehen will, der wird eine von beiden Parteien mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dennoch als Juniorpartner in der nächsten Koalition wiedersehen.
Die erhoffte bürgerliche Korrektur der Politik wird sodann zu weiten Teilen ausfallen, weil SPD wie Grüne ihre roten Linien ziehen werden. Wo diese liegen, demonstrieren beiden Parteien täglich. Eine echte Steuerung der illegalen Masseneinwanderung wird es mit den Grünen beispielsweise genauso wenig geben wie eine Korrektur der verkorksten Energiewende oder ein Ende fragwürdiger gesellschaftlicher Experimente wie des Selbstbestimmungsgesetzes. Und Einschnitte in den ausufernden Sozialstaat werden die Sozialdemokraten nicht mittragen. Das Ergebnis wäre in dem einen wie dem anderen Fall eine Fortsetzung der heutigen Politik, mit ein paar bürgerlichen Nuancen zur Beruhigung der CDU-Wähler.
Gewiss, Kompromisse gehören zur Demokratie, aber die Berücksichtigung der Mehrheitsverhältnisse gehört eigentlich auch dazu. Union und AfD hätten nach derzeitigem Stand eine satte Mehrheit im Parlament. Das ist kein Plädoyer für ein solches Bündnis, sondern die blosse Feststellung, dass der Souverän in Deutschland klar rechts der Mitte steht. Doch die Brandmauer der Christlichdemokraten sichert den etablierten linken Parteien ihren Platz an der Macht. Fragt sich nur, wie lange noch.
Falls das Bündnis von Frau Wagenknecht bei den ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst tatsächlich so stark abschneidet, wie die Umfragen vermuten lassen, dann wird die CDU-Brandmauer zum linken Rand sehr wahrscheinlich schneller zerbröseln, als man gucken kann. Schon jetzt äussern sich etliche führende Christlichdemokraten in diesem Sinne, und das nicht nur im Osten. Hendrik Wüst, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und stets zur Stelle, wenn es darum geht, seinem Parteivorsitzenden das Leben schwer zu machen, hat bereits erklärt, dass er den lieben Parteifreunden in Sachsen, Thüringen und Brandenburg in dieser Frage keine Ratschläge geben wolle.
CDU-Chef Friedrich Merz war da gerade erst gefragt worden, ob er denn bereit sei, über eine Zusammenarbeit mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht nachzudenken, um so einen AfD-Ministerpräsidenten im Osten zu verhindern. Seine Antwort: «Das ist völlig klar, das haben wir auch immer gesagt. Wir arbeiten mit solchen rechtsextremen und linksextremen Parteien nicht zusammen.» Frau Wagenknecht sei sogar beides: «in einigen Themen rechtsextrem, in anderen wiederum linksextrem».
Diese Worte sind nun in der Welt, und sie werden die Diskussion über den Sinn und Zweck christlichdemokratischer Brandmauern befeuern. Denn wenn die CDU im Herbst tatsächlich mit der nach Frau Wagenknecht benannten und ganz auf sie ausgerichteten Partei zusammenkommt – wo und in welcher Form auch immer –, dann verhilft sie einer nach den Worten des Parteichefs extremistischen Politikerin an die Macht.
Wie will Herr Merz die andere Brandmauer in diesem Fall noch rechtfertigen? Ist ein politisches Extrem wirklich weniger gefährlich als ein anderes? Oder sind die als Extremisten gebrandmarkten Wettbewerber, von den unstreitigen Fällen mal abgesehen, am Ende gar nicht alle extrem? Haben sie nur grundlegend andere Vorstellungen von Politik als jene, für die die Brandmauern bis jetzt eine Art Versicherungspolice darstellen? Es gibt auch Bürger, die Meldestellen für unliebsame Meinungen für extrem halten oder die freie Geschlechtswahl für Minderjährige.
Natürlich wäre ein Bündnis mit dem Team Wagenknecht mit erheblichen Risiken verbunden, von einer Zusammenarbeit mit der AfD ganz zu schweigen. In den Parteien der Ränder gibt es deutlich mehr fragwürdige Gestalten als anderswo. Aber die Alternative – eine fortgesetzte Ausgrenzung – ist angesichts des grossen Zuspruchs, vor allem im Osten, riskanter. Sie entmachtet den Souverän. Die CDU hat sich mit ihren Brandmauern einbetoniert und das Land gleich mit. Jetzt bröckelt es. Allein dafür kann man Frau Wagenknecht schon dankbar sein.