Verkaufs-Hit Europameisterschaft
Der europäische Fussballverband nimmt mit jeder TV-Spielminute 300 000 Euro ein – doch die Vermarktungsobergrenze scheint erreicht
Das Wetter könnte Kapriolen schlagen, eine Hitzewelle oder so. Vielleicht bricht die Sintflut über ein EM-Stadion herein. Wie an der Endrunde 2008 in Basel, als der St.-Jakob-Park zur Pfütze wurde und die Schweiz gegen die Türkei 1:2 verlor. Vier Jahre danach öffnete der Himmel in der Ukraine über der EM-Stadt Donezk vorübergehend alle Schleusen.
Solches taucht in der Erinnerung auf, wenn Martin Kallen vor der EM-Endrunde in Deutschland den Stand des Sorgenbarometers erläutert. Der Turnierdirektor spricht über das Wetter. Die Nässe führt dazu, dass auf dem Trainingsgelände die Qualität des Rasens nicht überall den Vorstellungen der verwöhnten Fussballer entspricht. Auch Cyberangriffe muss der europäische Fussballverband (Uefa) im Auge behalten. Dazu wird die Deutsche Bahn einem Stresstest unterzogen. Und ja, die Weltlage war schon erfreulicher. Sie ist an jedem Grossanlass präsent, der viel Volk versammelt. Einerseits fehlt in Deutschland das aus der Sportwelt verbannte Russland, andererseits sind die Sicherheitsvorkehrungen erheblich. Dennoch ist die Stimmungslage anders als etwa 20 16.
Viel Publikum erwartet
Damals ächzte Frankreich unter den Folgen der Terroranschläge, die im November 2015 Paris erschüttert hatten. Auch vor dem Stade de France, in dem Frankreich vor 80 000 Personen gegen Deutschland spielte, waren Sprengsätze detoniert. Wer ein halbes Jahr danach vor der EM den Trocadéro und den Eiffelturm besuchte, wähnte sich inmitten der Sicherheitskräfte wie in einem Sperrgebiet. Vorfreude geht anders.
Vor vier Jahren musste die Uefa die EM wegen der Pandemie von 2020 auf 2021 verschieben. Die quer durch Europa ausgetragene Endrunde litt unter beschränkten Stadionkapazitäten. In München durften nur 10 000 Leute den Match zwischen Deutschland und Frankreich verfolgen. In Baku sprachen Beobachter von einem «potemkinschen Uefa-Dorf». Fussball ja, aber unter Auflagen. Und irgendwie nur halb.
Das Turnier in Deutschland dagegen wirkt im Vorlauf wie die Vorfreude auf einen gut organisierten Kindergeburtstag. Fast alles ist gut. Zumal die Publikumsund Finanzzahlen eine Höhe erreicht haben, die nur schwer zu übertreffen sein wird. Vor über zehn Jahren sagte der Turnierdirektor Martin Kallen auf die Frage, wie weit die EM-Vermarktung gehen könne: «Ich weiss nicht, wo das Ende ist.» Heute entgegnet der Schweizer: «Ich glaube, dass wir die Decke erreicht haben, zumindest mit diesem Format, mit dem Zugang im frei empfangbaren Fernsehen.» Die Zahlen verbieten Gedanken an Änderungen. Das Turnier in Deutschland erreicht auf allen Ebenen Rekordwerte und spielt 2,4 Milliarden Euro ein. Die Medienrechte sind mit ungefähr 1,4 Milliarden die Haupteinnahmequelle. Heruntergebrochen hat die Uefa jede einzelne EM-Spielminute für 300 000 Euro an die Fernsehanstalten verkauft. Das ergibt für jedes der 51 Spiele die schwindelerregende Summe von 27 Millionen.
Man stelle sich einen guten oder langweiligen Vorrundenmatch vor – im Stadion, vor dem Fernseh- oder Kommunikationsgerät, in einer Bar oder in einer Fanzone. 27 Millionen kostet das, bitte schön. Jedes Mal. Verkauft werden 2,7 Millionen Eintrittskarten und 93 000 Hospitality-Pakete. Die EM ist ein (TV-)Verkaufs-Hit, vor allem seit 2016, als das Teilnehmerfeld von 16 auf 24 Auswahlen erweitert worden ist. Zunächst erhoben sich kritische Stimmen wegen der Verwässerung der Vorrunde. Aber davon ist mittlerweile kaum noch die Rede. Hoch gehalten werden vielmehr Geschichten über die erstmalige Teilnahme Georgiens, über neue Märkte bis zu Schätzungen, wie viele hunderttausend Fans vom Vereinigten Königreich nach Deutschland reisen werden.
Wohin fliesst das üppige Uefa-Geld? Die Turnierkosten verschlingen einen hohen dreistelligen Millionenbetrag. 2021 waren es fast 700 Millionen Euro.
Die Klubs, die Spieler zur Verfügung stellen, erhielten vor drei Jahren 200 Millionen. Und die teilnehmenden Verbände deren 331. Die Prämien steigen wegen der Pandemie-Delle nicht an. Die Viertelfinalqualifikation im Jahr 2021 brachte der Schweiz 14,75 Millionen Euro ein.
Der Uefa wird gegen eine Milliarde bleiben. Davon wird sie einen Teil für Reserven zurückstellen, die während der Pandemie weggeschmolzen sind. Zudem lässt sie seit je Geld via Hattrick-Hilfsprogramme dem europäischen Fussball zukommen. Die EM-Endrunde ist eine geölte Maschine, die Live-Gefühle produziert. Dafür bieten TV-Anstalten Unsummen, deren Höhe an den Turnieren 2028 (Grossbritannien) und 2032 (Türkei/Italien) ähnlich sein wird.
Keine Krise mehr
Die Uefa-Verantwortlichen müssen sich heuer nicht über eine Führungskrise ausschweigen wie 2016, nachdem der damalige Uefa-Chef Michel Platini wegen einer Fifa-Affäre hat zurücktreten müssen. Sie haben keine Pandemie mehr vor der Brust, zudem ist die Endrunde mit den zehn Turnierstädten nicht überall in Europa verstreut wie vor drei Jahren. Und sie sind nicht mit erschwerter Logistik und Zusatzkosten konfrontiert wie 2012, als sie mit Polen und der Ukraine in zwei äusserst verschiedenen Ländern zu Gast war.
Die Ukraine? Die Euro ging 2012 vor den Maidan-Revolten gegen die prorussische Führung über die Bühne. Die frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko war inhaftiert. Der «Spiegel» schrieb im Zuge von Boykottaufrufen von einer «Empörungskultur» in Deutschland und in der Europäischen Union. Die Uefa wich damals Fragen zur «Oligarchen-Welt» in der Ukraine aus.
Das Schweizer Fernsehen leitete vor der Endrunde damals einen Beitrag mit den Worten «getrübte Freude» ein. Der Fall Timoschenko wog schwer. In der Sendung sagte der ukrainische Musiker und Schriftsteller Serhi Zhadan: «Ich verstehe nicht, dass westliche Politiker erst jetzt darüber reden, dass es in der Ukraine keine Presse- und Meinungsfreiheit gibt. Vor drei Jahren war das nicht anders.» Über ein Jahrzehnt später hat sich Zhadan der ukrainischen Armee angeschlossen, um das Land gegen Russland zu verteidigen. Die EM in Deutschland wirkt da wie aus einer anderen Welt.