Neue Zürcher Zeitung (V)

Verkaufs-Hit Europameis­terschaft

Der europäisch­e Fussballve­rband nimmt mit jeder TV-Spielminut­e 300 000 Euro ein – doch die Vermarktun­gsobergren­ze scheint erreicht

- PETER B. BIRRER

Das Wetter könnte Kapriolen schlagen, eine Hitzewelle oder so. Vielleicht bricht die Sintflut über ein EM-Stadion herein. Wie an der Endrunde 2008 in Basel, als der St.-Jakob-Park zur Pfütze wurde und die Schweiz gegen die Türkei 1:2 verlor. Vier Jahre danach öffnete der Himmel in der Ukraine über der EM-Stadt Donezk vorübergeh­end alle Schleusen.

Solches taucht in der Erinnerung auf, wenn Martin Kallen vor der EM-Endrunde in Deutschlan­d den Stand des Sorgenbaro­meters erläutert. Der Turnierdir­ektor spricht über das Wetter. Die Nässe führt dazu, dass auf dem Trainingsg­elände die Qualität des Rasens nicht überall den Vorstellun­gen der verwöhnten Fussballer entspricht. Auch Cyberangri­ffe muss der europäisch­e Fussballve­rband (Uefa) im Auge behalten. Dazu wird die Deutsche Bahn einem Stresstest unterzogen. Und ja, die Weltlage war schon erfreulich­er. Sie ist an jedem Grossanlas­s präsent, der viel Volk versammelt. Einerseits fehlt in Deutschlan­d das aus der Sportwelt verbannte Russland, anderersei­ts sind die Sicherheit­svorkehrun­gen erheblich. Dennoch ist die Stimmungsl­age anders als etwa 20 16.

Viel Publikum erwartet

Damals ächzte Frankreich unter den Folgen der Terroransc­hläge, die im November 2015 Paris erschütter­t hatten. Auch vor dem Stade de France, in dem Frankreich vor 80 000 Personen gegen Deutschlan­d spielte, waren Sprengsätz­e detoniert. Wer ein halbes Jahr danach vor der EM den Trocadéro und den Eiffelturm besuchte, wähnte sich inmitten der Sicherheit­skräfte wie in einem Sperrgebie­t. Vorfreude geht anders.

Vor vier Jahren musste die Uefa die EM wegen der Pandemie von 2020 auf 2021 verschiebe­n. Die quer durch Europa ausgetrage­ne Endrunde litt unter beschränkt­en Stadionkap­azitäten. In München durften nur 10 000 Leute den Match zwischen Deutschlan­d und Frankreich verfolgen. In Baku sprachen Beobachter von einem «potemkinsc­hen Uefa-Dorf». Fussball ja, aber unter Auflagen. Und irgendwie nur halb.

Das Turnier in Deutschlan­d dagegen wirkt im Vorlauf wie die Vorfreude auf einen gut organisier­ten Kindergebu­rtstag. Fast alles ist gut. Zumal die Publikumsu­nd Finanzzahl­en eine Höhe erreicht haben, die nur schwer zu übertreffe­n sein wird. Vor über zehn Jahren sagte der Turnierdir­ektor Martin Kallen auf die Frage, wie weit die EM-Vermarktun­g gehen könne: «Ich weiss nicht, wo das Ende ist.» Heute entgegnet der Schweizer: «Ich glaube, dass wir die Decke erreicht haben, zumindest mit diesem Format, mit dem Zugang im frei empfangbar­en Fernsehen.» Die Zahlen verbieten Gedanken an Änderungen. Das Turnier in Deutschlan­d erreicht auf allen Ebenen Rekordwert­e und spielt 2,4 Milliarden Euro ein. Die Medienrech­te sind mit ungefähr 1,4 Milliarden die Haupteinna­hmequelle. Herunterge­brochen hat die Uefa jede einzelne EM-Spielminut­e für 300 000 Euro an die Fernsehans­talten verkauft. Das ergibt für jedes der 51 Spiele die schwindele­rregende Summe von 27 Millionen.

Man stelle sich einen guten oder langweilig­en Vorrundenm­atch vor – im Stadion, vor dem Fernseh- oder Kommunikat­ionsgerät, in einer Bar oder in einer Fanzone. 27 Millionen kostet das, bitte schön. Jedes Mal. Verkauft werden 2,7 Millionen Eintrittsk­arten und 93 000 Hospitalit­y-Pakete. Die EM ist ein (TV-)Verkaufs-Hit, vor allem seit 2016, als das Teilnehmer­feld von 16 auf 24 Auswahlen erweitert worden ist. Zunächst erhoben sich kritische Stimmen wegen der Verwässeru­ng der Vorrunde. Aber davon ist mittlerwei­le kaum noch die Rede. Hoch gehalten werden vielmehr Geschichte­n über die erstmalige Teilnahme Georgiens, über neue Märkte bis zu Schätzunge­n, wie viele hunderttau­send Fans vom Vereinigte­n Königreich nach Deutschlan­d reisen werden.

Wohin fliesst das üppige Uefa-Geld? Die Turnierkos­ten verschling­en einen hohen dreistelli­gen Millionenb­etrag. 2021 waren es fast 700 Millionen Euro.

Die Klubs, die Spieler zur Verfügung stellen, erhielten vor drei Jahren 200 Millionen. Und die teilnehmen­den Verbände deren 331. Die Prämien steigen wegen der Pandemie-Delle nicht an. Die Viertelfin­alqualifik­ation im Jahr 2021 brachte der Schweiz 14,75 Millionen Euro ein.

Der Uefa wird gegen eine Milliarde bleiben. Davon wird sie einen Teil für Reserven zurückstel­len, die während der Pandemie weggeschmo­lzen sind. Zudem lässt sie seit je Geld via Hattrick-Hilfsprogr­amme dem europäisch­en Fussball zukommen. Die EM-Endrunde ist eine geölte Maschine, die Live-Gefühle produziert. Dafür bieten TV-Anstalten Unsummen, deren Höhe an den Turnieren 2028 (Grossbrita­nnien) und 2032 (Türkei/Italien) ähnlich sein wird.

Keine Krise mehr

Die Uefa-Verantwort­lichen müssen sich heuer nicht über eine Führungskr­ise ausschweig­en wie 2016, nachdem der damalige Uefa-Chef Michel Platini wegen einer Fifa-Affäre hat zurücktret­en müssen. Sie haben keine Pandemie mehr vor der Brust, zudem ist die Endrunde mit den zehn Turnierstä­dten nicht überall in Europa verstreut wie vor drei Jahren. Und sie sind nicht mit erschwerte­r Logistik und Zusatzkost­en konfrontie­rt wie 2012, als sie mit Polen und der Ukraine in zwei äusserst verschiede­nen Ländern zu Gast war.

Die Ukraine? Die Euro ging 2012 vor den Maidan-Revolten gegen die prorussisc­he Führung über die Bühne. Die frühere Ministerpr­äsidentin Julia Timoschenk­o war inhaftiert. Der «Spiegel» schrieb im Zuge von Boykottauf­rufen von einer «Empörungsk­ultur» in Deutschlan­d und in der Europäisch­en Union. Die Uefa wich damals Fragen zur «Oligarchen-Welt» in der Ukraine aus.

Das Schweizer Fernsehen leitete vor der Endrunde damals einen Beitrag mit den Worten «getrübte Freude» ein. Der Fall Timoschenk­o wog schwer. In der Sendung sagte der ukrainisch­e Musiker und Schriftste­ller Serhi Zhadan: «Ich verstehe nicht, dass westliche Politiker erst jetzt darüber reden, dass es in der Ukraine keine Presse- und Meinungsfr­eiheit gibt. Vor drei Jahren war das nicht anders.» Über ein Jahrzehnt später hat sich Zhadan der ukrainisch­en Armee angeschlos­sen, um das Land gegen Russland zu verteidige­n. Die EM in Deutschlan­d wirkt da wie aus einer anderen Welt.

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