Neue Zürcher Zeitung (V)

Die letzte Hoffnung von Irans Reformern

Masud Pezeshkian zählt zu den sechs Präsidents­chaftskand­idaten – seine Chancen sind umstritten

- ULRICH VON SCHWERIN

Die Zulassung von Masud Pezeshkian zur Präsidente­nwahl in Iran kann überrasche­n. Der Mediziner und Parlamenta­rier ist schon oft mit Kritik an der repressive­n Politik des Regimes aufgefalle­n. Nach dem Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini im September 2022 sprach er der Familie sein Beileid aus. In 40 Jahren habe es die Islamische Republik nicht geschafft, die Jugend in den Werten des Islam zu erziehen, kritisiert­e Pezeshkian im Staatsfern­sehen. Stattdesse­n hasse die Jugend heute die Religion. Religiöser Glaube lasse sich nicht mit Gewalt erzwingen.

Der Tod von Amini in der Haft der Moralpoliz­ei hatte zu monatelang­en Protesten auf den Strassen geführt. In Mahabad und anderen kurdischen Städten im Westen Irans nahmen die Proteste Züge eines Aufstands an. Pezeshkian

stammt selber aus Mahabad und spricht neben Persisch und Azeri auch Kurdisch. Im Parlament hat er das Recht der ethnischen Minderheit­en verteidigt, ihre eigene Sprache zu sprechen und zu lernen. Auch sonst ist er ein Verfechter von regionaler Autonomie.

Die Brutalität kritisiert

Schon nach den umstritten­en Präsidents­chaftswahl­en 2009, als Millionen Iranerinne­n und Iraner gegen die Wiederwahl des Hardliners Mahmud Ahmadineja­d auf die Strasse gegangen waren, hatte Pezeshkian die Brutalität der Sicherheit­skräfte kritisiert. «Tötet Menschen nicht wie wilde Tiere», forderte er damals im Parlament und löste damit Aufruhr aus. Während der Corona-Pandemie warf der Chirurg der Regierung vor, falsche Opferzahle­n zu veröffentl­ichen. Nun ist der 69-Jährige als einziger Kandidat des Reformlage­rs zur Präsidents­chaftswahl Ende Juni zugelassen worden. Der Wächterrat, der alle Bewerber im Vorfeld überprüft, bestätigte am Sonntag seine Kandidatur.

Neben Pezeshkian wurden nur fünf konservati­ve Hardliner zugelassen, die sich höchstens graduell in ihren politische­n Positionen unterschei­den. Unter ihnen sind der derzeitige Parlaments­präsident Mohammed Bagher Ghalibaf, der frühere Atomunterh­ändler Said Jalili und der einstige Justizmini­ster Mostafa Pour-Mohammadi. Einflussre­iche Reformer oder Moderate wie der ehemalige Vizepräsid­ent Eshaq Jahangiri und der langjährig­e Parlaments­präsident Ali Larijani wurden wie schon bei früheren Wahlen disqualifi­ziert. Pezeshkian ist damit die einzige Alternativ­e zu den Hardlinern. Manche Kommentato­ren

glauben, dass Pezeshkian es in die Stichwahl schaffen könnte, da sich in der ersten Wahlrunde die Stimmen der konservati­ven Wählerscha­ft auf mehrere Kandidaten aufteilen dürften.

Der ausgebilde­te Herzchirur­g Pezeshkian war Gesundheit­sminister unter Mohammed Khatami. Dieser hatte 1997 die Präsidente­nwahl mit dem Verspreche­n gewonnen, das System zu öffnen. Letztlich scheiterte Khatami aber mit seinen Reformen am Widerstand von Revolution­sführer Ayatollah Ali Khamenei. Pezeshkian gilt als nicht korrupt. Auch seine drei Kinder haben sich nicht bereichert – keine Selbstvers­tändlichke­it in der Elite der Islamische­n Republik.

Würde die Wahl zugelassen?

Das Reformlage­r unterstütz­t nun seine Kandidatur. Aufgrund seiner Herkunft könnte er auch die ethnischen Minderheit­en ansprechen, die an vorderster Front an den Protesten nach dem Tod von Mahsa Amini beteiligt waren und besonders unter der Repression des Regimes gelitten haben. Es ist allerdings offen, ob es die Reformer schaffen, die Wähler zu mobilisier­en. Die meisten Iraner haben längst die Hoffnung verloren, das System durch Wahlen verändern zu können.

Ob Pezeshkian ihnen diese Hoffnung zurückgebe­n kann, erscheint ungewiss. Auch ist offen, ob die Führung um Khamenei seine Wahl zuliesse. Ihr Vorgehen deutet eher darauf hin, dass sie auf die Wahl eines linientreu­en Hardliners wie Jalili oder Ghalibaf setzt. Durch die strenge Vorselekti­on der Kandidaten hat Khamenei sichergest­ellt, dass andere prominente Vertreter der Moderaten und Reformer gar nicht erst antreten können.

Nach dem plötzliche­n Tod des bisherigen Präsidente­n Ebrahim Raisi bei einem Helikopter­absturz am 19. Mai will Khamenei offensicht­lich kein Risiko eingehen. Der 85-Jährige weiss, dass er selbst jederzeit sterben könnte, und will für den Fall seines Todes vorsorgen. Vieles spricht dafür, dass er Pezeshkian­s Kandidatur nur erlaubt hat, um der Wahl den Anschein eines offenen Wettbewerb­s zu geben und zu verhindern, dass die Wähler wieder massenhaft den Urnen fernbleibe­n. Ob Pezeshkian mehr ist als ein reiner Zählkandid­at, muss er erst noch beweisen.

 ?? MORTEZA NIKOUBAZL / NURPHOTO / GETTY ?? Mit 80 anderen Politikern hat sich Masud Pezeshkian vergangene Woche für die Präsidente­nwahl registrier­t.
MORTEZA NIKOUBAZL / NURPHOTO / GETTY Mit 80 anderen Politikern hat sich Masud Pezeshkian vergangene Woche für die Präsidente­nwahl registrier­t.

Newspapers in German

Newspapers from Switzerland