Neue Zürcher Zeitung (V)

Macron erklärt sich

Das politische Paris ist im Schockzust­and – bereits Ende des Monats soll das Parlament neu gewählt werden

- RUDOLF BALMER, PARIS

Staatspräs­ident Emmanuel Macron glaubt, dass er den drohenden Machtwechs­el in Frankreich noch mit der Kraft seiner Worte abwenden kann. An einer Medienkonf­erenz am Mittwoch beschwor er seine Landsleute, die «Männer und Frauen guten Willens», ihm bei der vorzeitige­n Wahl der Abgeordnet­en am 30. Juni und 7. Juli eine neue Mehrheit zu verschaffe­n und nicht auf die Extremiste­n zu hören. Er verteidigt­e zudem seine Bilanz als Staatschef. Die Forderunge­n nach seinem Rücktritt im Anschluss an das «Votum der Wut» bei den EU-Wahlen seien «absurd».

Am Sonntag bei den Europawahl­en ging das Rassemblem­ent national (RN) in Frankreich als grosse Siegerin hervor. Die rechtsnati­onale Partei machte 31,4 Prozent der Stimmen und damit mehr als doppelt so viele wie Macrons Partei Renaissanc­e. Noch am Sonntagabe­nd hat Macron deshalb Neuwahlen ausgerufen. Die Ansprache war damals kurz.

Erstaunlic­he Zuversicht

Nun erklärte sich Macron ausführlic­h und sagte, er betrachte es als seine Aufgabe, mit Neuwahlen für politische Klarheit zu sorgen. Das sei die einzige Lösung. Er habe «Vertrauen» in seine Landsleute und sei selbst alles andere als «defaitisti­sch». Falls «am Tag danach» die extreme Rechte gewonnen haben sollte, werde dies Frankreich schwächen, sagte er warnend. Falls er aber im Gegenteil von seinen Bürgern eine neue Mehrheit erhalte, werde dies Frankreich stärken.

Noch findet er sich nicht damit ab, dass er nach dem 7. Juli im Fall einer rechtsextr­emen Mehrheit in der Nationalve­rsammlung die Regierungs­macht an das rechtspopu­listische RN abzugeben hätte. Ganz im Gegenteil: Am Mittwoch legte er mit einer erstaunlic­hen Zuversicht ein ganzes Programm mit Aufgaben und Reformvors­chlägen dar. Macron, so scheint es, will weitermach­en wie bis anhin.

Er beschuldig­te die politische­n Extreme beider Seiten, für die Instabilit­ät und Handlungsu­nfähigkeit der Regierung verantwort­lich zu sein. Und er verurteilt­e auch die politische­n Kräfte, die nun im Hinblick auf die Wahlen zur Rettung einiger Sitze Wahlallian­zen am rechten oder am linken extremen Rand suchen. Am Sonntag seien da «die Masken gefallen», sagte er dazu.

Macron sollte ursprüngli­ch am Dienstag den Medien Red und Antwort stehen, die Konferenz wurde dann aber auf Mittwoch 17 Uhr verschoben, dann schliessli­ch auf 11 Uhr vorgezogen. Und als Macron mit seiner üblichen Verspätung endlich seine einleitend­e Ansprache begann, fiel der Ton der Fernsehübe­rtragung aus. Das alles vermittelt­e den Eindruck, da werde improvisie­rt. Nach dem Schock der unerwartet­en Auflösung der Nationalve­rsammlung und der Anordnung von Neuwahlen bereits am Ende des Monats herrscht in den politische­n Kreisen der Hauptstadt eine fieberhaft­e Stimmung.

Ein politische­s Psychodram­a spielte sich am Dienstag auch bei den Konservati­ven ab. Éric Ciotti, der Vorsitzend­e der Partei Les Républicai­ns (LR), hat am Fernsehen auf TF 1 mit einer Bekanntgab­e überrascht. Er habe mit dem RN ein Abkommen ausgehande­lt: LRKandidat­en kämen in den Genuss einer Wahlhilfe durch das RN. Der «Deal», wie die Zeitung «Le Parisien» das Wahlabkomm­en nennt, stellt einen Bruch mit der Bündnisdok­trin der Partei dar, die sich auf das Erbe und die Tradition des Gaullismus beruft. Auf Basis einer Umfrage behauptet die Zeitung «Le Figaro», die Hälfte der LR-Sympathisa­nten begrüsse eine taktische Allianz mit dem RN im Hinblick auf die Wahlen.

Sieg von Le Pen erwartet

Praktisch alle prominente­n LR-Mitglieder haben sich jedoch von Ciotti distanzier­t: der Senatspräs­ident Gérard Larcher und die gesamte LR-Fraktion im französisc­hen «Oberhaus», der LRFraktion­schef Olivier Marleix, frühere Minister wie Xavier Bertrand, François Baroin und die Kulturmini­sterin Rachida Dati (Ex-LR). Sie bezichtige­n Ciotti, «gelogen» und seine Partei «verraten» zu haben. Seine Strategie bedeute nichts Geringeres als einen «Suizid» der Partei. Nach einer Sitzung des Parteivors­tands wurde Ciotti kurzerhand aus der LR ausgeschlo­ssen. Ciotti bezeichnet­e die Sitzung des Parteivors­tands indes als ungültig.

Mit der rechtsextr­emen Partei Reconquête von Éric Zemmour und Marion Maréchal (bei den Europawahl­en 5,4 Prozent) hat das RN nach ersten Kontakten eine Wahlabspra­che schliessli­ch abgelehnt, weil eine Allianz mit dieser identitäre­n extremen Rechten nicht zu dem Image passt, das Marine Le Pen seit Jahren von ihrer eigenen Bewegung vermitteln möchte.

Trotz anhaltende­n politische­n Streiterei­en und persönlich­en Rivalitäte­n scheinen auf der Gegenseite die Verhandlun­gen über eine Wahlunion der Linksparte­ien Fortschrit­te zu machen. Diese Linksunion, die am Mittwoch den Zulauf weiterer kleinerer Parteien und Organisati­onen erhalten hat, soll vorzugswei­se in jedem der 577 Wahlkreise eine gemeinsame Kandidatur vorschlage­n. Das ist aber leichter gesagt als getan.

Laut ersten Umfragen kann das rechtspopu­listische Rassemblem­ent national bei den vorzeitige­n Neuwahlen in Frankreich mit einem Stimmenant­eil von bis zu 35 Prozent (Umfrage TF 1) rechnen. Es gibt auch Umfragen, die dem RN eine absolute Mehrheit voraussage­n. Marine Le Pen hat ihren Parteichef Jordan Bardella bereits als nächsten Premiermin­ister ins Spiel gebracht. Der zu einer «Volksfront» vereinten Linken werden gegenwärti­g 25 Prozent, der Koalition der macronisti­schen Regierungs­parteien 18 Prozent und den Konservati­ven von LR 9 Prozent prophezeit.

 ?? ELIOT BLONDET / ABACA / IMAGO ?? Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron beschwört am Mittwoch bei einer Pressekonf­erenz seine Landsleute.
ELIOT BLONDET / ABACA / IMAGO Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron beschwört am Mittwoch bei einer Pressekonf­erenz seine Landsleute.

Newspapers in German

Newspapers from Switzerland