Putins grauer Kardinal
Wladislaw Surkow gehört zu den Chefdenkern im Kreml und beflügelt die Phantasie der Schriftsteller.
Der Mann ist ein Phantom. Er taucht aus dem Nichts auf, zieht seine Strippen, fängt menschliche Seelen und verschwindet wieder spurlos. Er verfügt über kein richtiges politisches Amt, ja nicht einmal über einen richtigen Namen. Man nennt Wladislaw Surkow oft nur «grauer Kardinal», weil er – wie es im Kremljargon heisst – den Rückhalt des Präsidenten bei der russischen Bevölkerung «kuratiert».
In der schattenhaften Funktion des stellvertretenden Leiters der mächtigen Präsidialadministration hatte er entscheidenden Anteil am Aufbau von Putins Macht. Einen schmerzhaften Knick erfuhr seine Laufbahn nach den Massenprotesten im Winter 2011/12. Allerdings arbeitete er sich bald wieder in die Gunst des ewigen Machthabers zurück und übernahm während des Euromaidan das Ukraine-Dossier.
Seine Haltung zur Ukraine zeichnet sich vor allem durch Zynismus aus. Er stellte im Jahr 2020 öffentlich die Frage, ob die Staatlichkeit der Ukraine «noch nicht» oder «nicht mehr» existiere. Es gebe keine Ukraine, sondern nur ein «Ukrainertum». Und mit einem Seitenblick auf die berühmte stalinistische Kritik an Schostakowitschs Avantgardemusik sprach er von «Chaos statt Staatlichkeit».
Dabei weiss kaum einer besser als Surkow, dass alle Nationen konstruiert und mit Polittechnologien am Leben erhalten werden – auch Russland. Putins verzweifelte Appelle an das angeblich «zusammengeschweisste Staatsvolk» sind der deutlichste Ausdruck des prekären Zustands der russischen Nation, die in der 2020 reformierten Verfassung bald als «multinationaler Bund gleichberechtigter Völker», bald als «multinationales Volk» angesprochen wird.
Skrupelloser Manipulator
Wladislaw Jurjewitsch Surkow ist selbst Produkt einer solch wundersamen postsowjetischen Nationsbildung. Sein Vater war ein tschetschenischer Lehrer, der später eine steile Karriere im Militärgeheimdienst machte. Surkow trägt einen russifizierten Vatersnamen und den Familiennamen seiner russischen Mutter.
In den neusten Romanen von Giuliano da Empoli und Jerofejew tritt Surkow nochmals mit einem je anderen Namen auf. Beide Autoren müssen sich jedoch nicht die Mühe nehmen, ihrem Publikum zu erklären, wer sich hinter dieser Maske verbirgt. Da Empoli zeichnet das Porträt eines ebenso begabten wie skrupellosen Manipulators. Jerofejew setzt für Surkow den Namen «Stawrogin» ein verweist damit auf den schillernden Protagonisten aus Dostojewskis «Dämonen».
Stawrogin tritt bei Dostojewski als Inbegriff des fehlgeleiteten russischen Intellektuellen auf, der nach einem verpfuschten Leben für sich nur noch zwei Optionen sieht: Bürger des Kantons Uri zu werden oder Selbstmord zu begehen. Beide sind bei Dostojewski Chiffren der Ausweglosigkeit (Dostojewski starb ein Jahr vor der Eröffnung des Gotthardtunnels). Jerofejew billigt auch Surkow kein vorteilhafteres Ende zu. Gleichzeitig anerkennt er aber dessen Leistungen als sozialer Skulpteur.
Surkow schloss zwei Universitätsstudien ab: eines in Metallurgie und eines in Dramaturgie. Ebenso kombinierte er in den wilden neunziger Jahren die Hardware und die Software der Menschenzucht. Er arbeitete als Bodyguard, Werbetexter, Spion und Banker. Einer seiner Arbeitgeber war der aufstrebende Michail Chodorkowski, den er aber bald gegen den noch erfolgreicher agierenden Wladimir Putin austauschte.
Im Jahr zwei der Ära Putin formulierte Surkow für die Regierungspartei Einiges Russland seine «Februarthesen». Bereits dieser Titel zeigt die machiavellistische Ausrichtung von Surkows politischer Arbeit. Lenin hatte 1917 seine berühmten «Aprilthesen» veröffentlicht, die er als Gebrauchsanweisung für die Oktoberrevolution verstanden wissen wollte.
Surkow sagt, es gebe keine Ukraine, sondern nur ein «Ukrainertum».
Surkow gilt als Meister der Kombination des Unkombinierbaren. In den «Februarthesen» verbindet er das Ziel einer quasisowjetischen Parteidisziplin mit moderner Menschenführung. Er fordert, dass sich die Parteimitglieder nicht wie Jünger, sondern wie Aktionäre verhalten sollen. Sie investieren in die Macht und möchten eine entsprechende Dividende erhalten. Surkow unterstreicht, dass politische Resultate nicht in erster Linie durch Zwang, sondern durch «Technologien des Überzeugens» erreicht werden sollen.
Geschickt, aber wenig nachhaltig
Um die Herrschaft über die russischen Seelen zu erlangen, wählt Surkow alle möglichen Zielgruppen aus. Zusammen bilden sie eine kunterbunte Mischung, je für sich genommen sind sie unter einem bestimmten Aspekt anschlussfähig gegenüber dem System Putin. So mobilisierte Surkow die orthodoxen Gläubigen («das heilige Russland») und die atheistischen Kommunisten («das Sowjetimperium»), die liberalen Insider («eine wettbewerbsfähige* Gesellschaft») und die Motorradgang «Nachtwölfe» («Die Russen sind eine starke Mafiabande»).
Es gibt dabei allerdings ein Problem: So geschickt Surkows Schachzüge im Einzelnen erscheinen mögen, so wenig nachhaltig sind sie im Ganzen. Man kann zwar durch Polittechnologien bestimmte Haltungen fördern und unterstützen, aber keine staatstragende Gesellschaft erschaffen.
Ganz in seinem Element ist Surkow eigentlich nur in der Literatur. 2009 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Natan Dubowizki einen Roman, der grosses Aufsehen erregte. Unter dem Titel «Nahe Null» präsentierte er ein postsowjetisches Gruselkabinett: Korruption, Auftragsmorde, Manipulation und Betrug sind bis hinauf in die höchsten Etagen an der Tagesordnung. Der sinistre Held verdient sein Geld auf dem Buchmarkt: Er verkauft Raubkopien und unlizenzierte Auflagen, produziert literarische Mystifikationen und bedient die schriftstellerischen Ambitionen von Oligarchen, indem er arme, begabte Autoren als Ghostwriter schuften lässt.
Der Roman hat durchaus literarische Qualitäten und zitiert mit Kafka und Nabokov seine ästhetischen Vorbilder explizit. Die Romanhandlung tut allerdings wenig zur Sache und dient eigentlich nur als Vehikel für Surkows Spiel mit seiner eigenen Autormystifikation. Surkow hatte im Vorfeld des Erscheinens gezielt das Gerücht gestreut, er habe selbst den Roman verfasst. Ausserdem war das gewählte Pseudonym sehr durchsichtig: Surkows Frau heisst Natascha Dubowizkaja. Schliesslich mobilisierte Surkow auch noch Viktor Jerofejew für eine Rezension.
Der Roman wurde von Oppositionellen kritisiert als Ausdruck des neuen Nihilismus einer russischen Intelligenzia, die sich ohne eigene politische Überzeugungen für die Stärkung der herrschenden Ordnung einspannen lässt. 2012 wollte Surkow den Erfolg von «Nahe Null» wiederholen, er scheiterte aber kläglich. In dem neuen Roman tummelte sich ein Figuren-Karussell aus Pädophilen, autistischen Wissenschaftern, fliegenden Mönchen und in Engel verwandelten Opfern des gesunkenen U-Boots «Kursk».
Menschenleere Demokratie
Grössere Anerkennung erlangte Surkow mit einer Reihe von Aufsätzen zur Lage der Nation. 2018 veröffentlichte er einen programmatischen Artikel mit dem Titel «Die Einsamkeit des Halbblutes (14+)». Die Klammer bezieht sich auf das Jahr 2014, das laut Surkow eine neue Ära der selbstgewählten russischen Isolation einläutete. Surkow stellt fest, dass sich Russland vierhundert Jahre lang nach Osten und vierhundert Jahre lang nach Westen ausgerichtet habe.
Weder unter dem Mongolenjoch noch in der Europäisierung durch Zar Peter den Grossen habe Russland sein Heil gefunden. Jetzt gehe es darum, einen «dritten Weg», einen «dritten Zivilisationstypus», ein «drittes Rom» zu finden. 2019 spann Surkow diesen Gedanken fort und schrieb über den «langen Staat Putins», der sich über das politische Tagesgeschäft erhebe.
Er polemisierte mit dem Vorwurf eines «tiefen Staates», der angeblich Russland kontrolliert, und stellte ihm den Begriff eines «tiefen Volkes» gegenüber, das die russischen Werte dauerhaft in sich trage. 2021 kündigte Surkow das «Ende des menschlichen Staates» und den «Beginn der menschenleeren Demokratie» an.
In Zukunft werde die künstliche Intelligenz alle politischen Entscheidungen fällen. Dabei sei das Staatsvolk aber nicht den Maschinen ausgeliefert. Durch «gastfreundlich weit geöffnete Hintertüren» könnten sowohl Informatiker als auch Geheimdienstler in das Computersystem eingreifen und die gewünschte politische Richtung vorgeben. Letztlich schwebt Surkow hier die Herausbildung einer neuen Techno-Aristokratie vor.
Kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine meldete sich Surkow mit dem Artikel «Die nebelhafte Zukunft des schändlichen Friedens» zu Wort. Er spielte auf die Verträge von Brest-Litowsk an und verkündete, Russland stehe für einen Frieden ein, allerdings nicht für einen «schändlichen», sondern für einen «richtigen». Selbstverständlich meinte Surkow damit eine imperiale Pax Russica.
Im vergangenen Jahr demonstrierte er schliesslich ein weiteres Mal, dass er in grossen Zeiträumen denkt. Er stellte dem «globalen Süden» die Idee eines zukünftigen «grossen Nordens» entgegen, der aus der unwahrscheinlichen Allianz von Russland, Europa und den USA bestehen soll. Zurzeit gibt es – wie es sich für ein Phantom gehört – keine gesicherten Informationen über Surkows Stellung im Kreml oder über seine gegenwärtige Tätigkeit. Ab und zu meldet er sich in Interviews zu Wort. Zuletzt prägte er eine «Friedensformel» für den Ukraine-Krieg: «minus Selenski». Erst wenn die «imaginäre Grösse» des ukrainischen Präsidenten aus der Gleichung eliminiert sei, könne man zu einem Resultat gelangen.