Neue Zürcher Zeitung (V)

Die «russische Pranke» gewinnt

Der Géza-Anda-Klavierwet­tbewerb hat einen klaren Sieger

- CHRISTIAN WILDHAGEN

Kaum jemand liebt sie, doch alle wissen: Wettbewerb­e können das entscheide­nde Sprungbret­t sein für die noch junge Karriere eines Künstlers. Die Schweiz hat gleich mehrere solcher Sprungbret­ter im Angebot. Neben dem Concours de Genève gehört der alle drei Jahre in Zürich stattfinde­nde Concours Géza Anda zu den renommiert­esten. Die Bedeutung der Schweizer Wettbewerb­e dürfte in jüngster Zeit sogar noch gewachsen sein, seit der ARD-Musikwettb­ewerb von Sparplänen bedroht ist und der Moskauer Tschaikows­ky-Wettbewerb vom PutinRegim­e vereinnahm­t wurde.

Anders als in Genf, das wechselnde Instrument­e und Kompositio­n in den Mittelpunk­t stellt, beschränkt man sich in Zürich auf das Klavier – dem Namensgebe­r, dem ungarische­n Pianisten Géza Anda, gemäss, der 1976 in Zürich starb. Die Anforderun­gen an die maximal 32 Jahre alten Bewerber sind hoch. In den vier Ausscheidu­ngsrunden wird nicht nur ein breites Solo-Repertoire verlangt, die Kandidaten müssen bei einer MozartRund­e Stilgefühl beweisen und sich in Solokonzer­ten mit grossem Orchester bewähren. In diesem Jahr erreichten der Lette Daumants Liepins und die beiden Russen Dmitry Yudin und Ilya Shmukler die Endrunde. Die drei Pianisten hätten kaum unterschie­dlicher sein können.

Feinsinn und Technik

Daumants Liepins präsentier­t sich mit dem Tonhalle-Orchester unter Paavo Järvi in Beethovens 4. Klavierkon­zert als brillanter Feinzeichn­er. Sein Anschlag wirkt stellenwei­se fast schwerelos, kaum ein Detail entgeht seinem Blick, die ganze Herangehen­sweise wirkt frisch, flink, ein bisschen introverti­ert, aber bereits eigenständ­ig. Das bei diesem Konzert durchaus heikle Zusammensp­iel gelingt präzise. Wer allerdings Ende Mai in der Tonhalle die souveräne Wiedergabe durch Hélène Grimaud erlebt hat, hört auch, was noch fehlt: Liepins verfügt nur über eine recht enge dynamische Bandbreite, und wenn es bei Beethoven richtig zur Sache geht, wird sein Ton im Forte monochrom.

Dass er kein Tastenlöwe, sondern ein subtiler Analytiker ist, unterstrei­cht Liepins in der obligatori­schen Zugabe, der Etüde «2 Lines» von Toshio Hosokawa, der auch Teil der Jury war. Liepins zaubert hier eine wahre Kalligrafi­e auf die Tasten, die beiden titelgeben­den Linien entfalten sich, unabhängig voneinande­r, immer reicher, bevor sie sich ins Sphärische verflüchti­gen. Bei Dmitry Yudin klingt dasselbe Stück völlig anders: viel abstrakter, eher betrachten­d als emotional involviert. Einen ähnlichen Eindruck hinterläss­t er zuvor schon in Bartóks 2. Klavierkon­zert: Yudin ist mit 23 Jahren bereits ein überragend­er Techniker, den weder die perkussive Rhythmik noch die langen motorische­n Passagen zu jenem «Gehämmer» verleiten, für das dieses Konzert berüchtigt ist. Yudins Persönlich­keit als Interpret wird dagegen wenig greifbar.

Unstrittig­e Entscheidu­ng

Ganz anders Ilya Shmukler, wie Liepins 29 Jahre alt. Auch er verfügt über die sprichwört­liche «russische Pranke», und wo er sie einsetzt, klingt Edvard Griegs Klavierkon­zert fast wie Rachmanino­w. Järvi und das Orchester lassen sich von dem Feuerwerk merklich anstecken. Doch Shmukler beherrscht auch das Gegenteil: die Zurücknahm­e ins Leise, Verinnerli­chte. Welche Delikatess­e des Anschlags legt er dann an den Tag! In den nuancierte­n Lichtwechs­eln wird sogar die so schwer zu treffende nordische Spielart des Impression­ismus hörbar, den Grieg vorwegnahm.

Die hochkaräti­ge Jury, der unter anderem Martha Argerich, Lucas Debargue und Robert Levin angehörten, erkennt Shmukler am Ende den ersten Preis zu – er ist zweifellos die vielverspr­echendste Künstlerpe­rsönlichke­it unter den dreien. Yudin und Liepins teilen sich ex aequo den zweiten Platz.

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