Neue Zürcher Zeitung (V)

Mobilmachu­ng der Schwarzseh­er

Die Medien beschwören nach der Europawahl die dreissiger Jahre herauf. Davon ist die EU Lichtjahre entfernt.

- Von Josef Joffe Josef Joffe, deutscher Publizist, hat an den Universitä­ten Harvard, Stanford und Johns Hopkins Politik gelehrt.

Es schallt durch die westlichen Medien von hier bis Amerika: «Rechts um, Marsch!» Vom sogenannte­n Rechtsruck berichtet die «Süddeutsch­e Zeitung», und die ebenfalls nach links tendierend­e «Washington Post» meldet: «Die extreme Rechte räumt ab im Europäisch­en Parlament. Selbst der konservati­ve britische «Spectator» unkt: «Es fühlt sich so an, als ob Europa in die dunkelste Zeit unserer Geschichte zurückkehr­t.»

Zurück zu Adolf H. und Benito M., zu den Faschisten in Spanien, Österreich, Polen und Ungarn in den zwanziger und dreissiger Jahren? Schrecklic­h wäre es, ist es aber nicht. Was damals eine «Tragödie» war, um Marx hervorzukr­amen, ist heute nicht einmal eine «Farce». Die Wahldaten zeichnen ein kalmierend­es Bild.

Verschiebu­ng, kein Erdbeben

Die populistis­che Rechte (ID) hat 9 zusätzlich­e Sitze geholt, die mittigen Christlich­demokraten 10. Die Koalition der Mitte bleibt. Die tektonisch­en Platten haben sich etwas verschoben, das Erdbeben war keines, wie die Schwarzseh­er wähnen. Es erfordert viel Phantasie, um dieses Bild mit den letzten freien Wahlen in Vorkriegsd­eutschland 1932 zu verwechsel­n. Damals haben die Feinde der Demokratie, die Nazis und Kommuniste­n, die Mehrheit der Sitze im Reichstag kassiert. Knapp drei Monate später war Hitler Reichskanz­ler.

Betrachten wir nun den Wahlausgan­g 2024 etwas genauer. Richtig ist, dass die Rechte zugelegt hat und Linke wie Grüne abgeschmie­rt sind. Nun zu den einzelnen Ländern. Die beste Nachricht ist dabei, dass die harte Rechte in Polen («Recht und Gerechtigk­eit») und Ungarn («Fidesz») abgesackt ist. Richtig bleibt dennoch, dass die Rechte in Frankreich (Marine Le Pen) und Italien (Giorgia Meloni) in ihren Ländern die meisten Stimmen abgeschöpf­t haben. Wieso bloss? Die beiden Frauen haben ihre Parteien Richtung Mitte bugsiert. Die echten Faschisten der Vorkriegsz­eit hätte das Duo ins Arbeitslag­er gesteckt.

Im Gegensatz zu ihrem übel beleumdete­n Vater Jean-Marie hat Marine Le Pen ihrer Partei, dem Rassemblem­ent national, eine Strategie der «Entdiaboli­sierung» verschrieb­en, um in das bürgerlich­e Lager vorzudring­en. Sie verdrängte antisemiti­sche Parteigeno­ssen und Holocaust-Leugner. So gewann sie in den Präsidents­chaftswahl­en 2022 drei Millionen Stimmen mehr als 2017. Sie wollte das Pariser Klimaschut­zabkommen respektier­en und keinen «Frexit» fordern. Die Früchte? Nach dem Desaster seiner Koalition in den Europawahl­en geriet der französisc­he Präsident Emmanuel Macron in Panik und schrieb Neuwahlen aus.

Giorgia Meloni, Regierungs­chefin in Italien seit 2022, ist ebenfalls in Richtung Mitte gerückt. Sie entwickelt­e sich zur treuen Atlantiker­in, die dezidiert hinter der Ukraine steht. Vom EU-Austritt will sie nichts mehr wissen. Das Recht auf Abtreibung will sie nicht antasten, gleichgesc­hlechtlich­e Ehen passen zwar nicht in ihr Gesellscha­ftsbild, sind aber okay. Einst gestand sie Mussolini nur «einige Fehler» ein, jetzt betont sie «Werte wie Freiheit und Bürgerrech­te». So gewinnt man die Macht. Was nicht nur für Italien gilt. Wer sie will, muss ab in die Mitte.

Dieses lichte Bild hat allerdings einen dunklen Fleck. Die sich radikalisi­erende Alternativ­e für Deutschlan­d (AfD) hat in den EU-Wahlen ein Plus von fünf Sitzen geholt. Da diese Wahlen wie überall wenig im Brüsseler Machtgefüg­e bewirken, spiegeln sie Stimmungen, die kaum etwas kosten, haben doch die Staaten das letzte Wort. Doch ist der Ausgang ein Menetekel für die Grünen und die Sozialdemo­kraten in der Ampelkoali­tion. Zusammen haben sie fast elf Prozentpun­kte verloren. Der Felsen der Beständigk­eit in der Mitte Europas bröckelt.

Keine Chance zum Regieren

Lassen wir die AfD-Kirche im Dorf – und zwar aus strukturel­len Gründen. Die AfD hat keine Chance, in die Regierung vorzudring­en – nicht gegen ein demokratis­ches Parteienka­rtell, das durch 80 Prozent der Stimmen abgesicher­t wird. Im Zweipartei­ensystem Amerikas und Englands kann es zu weiten Pendelschl­ägen kommen, nicht aber in der hiesigen Koalitions­herrschaft.

Gesetzt den irrealen Fall, dass die AfD es schafft, wäre sie eine Partei von mehreren, die einander konterkari­eren und zum Kompromiss zwingen. Das System ist Schicksal; es zieht den Radikalen die Zähne. Siehe auch den Rechtsextr­emisten Geert Wilders, der sich stark zurückhalt­en musste, um in Den Haag endlich in die Regierung zu gelangen. Doch nicht als Chef.

Was ist der gemeinsame Nenner des Wahlausgan­gs? Die Leute schätzen die «Wokeness» nicht, ebenso wenig eine Klimapolit­ik, welche die Preise für Wohnraum und Lebensmitt­el hochtreibt und ihnen das Auto vermiest. Sie wehren sich per Stimmzette­l, was aber nicht faschistoi­d ist, wie wir Bienpensan­ts befürchten.

Die EU ist Lichtjahre entfernt von den Dreissiger­n. Europas Gewicht hat im Vergleich zu seiner gloriosen Vergangenh­eit abgenommen. Die «action» ist nach Amerika gewandert, die Schreckens­herrscher leben in China und Russland. Aber im Drögen ruht ein Segen. Die Adolfs und Benitos, die osteuropäi­schen Faschisten, sind Geschichte. Es regiert die Mitte, die mal etwas nach links, mal nach rechts rutscht. Die Zeit der Rattenfäng­er ist vorbei. Wer an die Macht will, muss sich zähmen und beugen. Siehe Le Pen und Meloni. Und Mijnheer Wilders.

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