Neue Zürcher Zeitung (V)

Seinetwege­n fallen Turnstunde­n aus

Timothé Mumenthale­r gewinnt über 200 Meter sensatione­ll EM-Gold

- CHRISTOF KRAPF, ROM

Im Internat im Waadtlände­r Dörfchen Saint-Cergue fallen die Turnstunde­n dieser Tage aus. Der Sportlehre­r ist Hals über Kopf nach Rom gereist. Der Lehrer heisst Kevin Widmer und ist der Trainer von Timothé Mumenthale­r. Widmer, 53 Jahre alt, sitzt am Sonntagabe­nd vor dem Fernseher und sieht, wie sein Athlet in den EM-Final über 200 Meter stürmt. Er ruft sofort den Schuldirek­tor an, bittet um zwei freie Tage, dann bucht er den Flug. In Rom angekommen, eilt er ins Stadion.

Dort erlebt Widmer von der Tribüne aus eine Sensation. Der Aussenseit­er Mumenthale­r lässt im Final alle Konkurrent­en stehen und gewinnt in einer Zeit von 20,28 Sekunden die Goldmedail­le. Der 21-jährige Genfer schafft diesen Coup an seinem ersten Grossanlas­s bei den Aktiven.Widmer sagt, das Ziel sei der Final gewesen: «Als er das geschafft hatte, galt die Devise ‹Alles oder nichts›. Wir wollten eine Medaille. Dass es Gold wird, davon wagten wir nicht zu träumen.»

Vor dem Rennen sagt Widmer zu Mumenthale­r, er solle auf der Aussenbahn laufend keinesfall­s auf die Gegner warten. Warten auf die Konkurrenz, das passt nicht zu Mumenthale­r. Er sagt: «Ich habe Hunger nach grossen Events, ich liebe die grossen Chancen, ich habe Ambitionen, ich will die Leute inspiriere­n.» Das sei seine Denkweise.

Bild einer flüchtende­n Gazelle

Vor dem Rennen schaut er sich ein Video an, von einer Gazelle, die von Geparden durch die Savanne gejagt wird. «Ich habe mir die ganze Zeit vorgestell­t, ich sei diese Gazelle», sagt Mumenthale­r.

Wie Mumenthale­r tickt, zeigt sich beim Einlauf ins Stadio Olimpico. Die Lichter sind ausgeschal­tet, ein einzelner Scheinwerf­er fokussiert auf den Schweizer. Der imitiert einen Telefonanr­uf, tut so, als würde er Notizen machen. Dann schreitet er zum Startblock. Die Posen der Top-Sprinter hat er schon drauf.

«Für mich ist Sport Business. Und die Geste war ein Business-Call an mich selbst. Ich wollte mich daran erinnern, dass ich einen Job zu machen habe», sagt Mumenthale­r. Und schiebt lachend nach: «Job erledigt, oder?»

Mumenthale­r gilt in der Szene als Nonkonform­ist – als talentiert, aber schwierig zu führen. Das sagen Westschwei­zer Funktionär­e vor dem 200-Meter-Final. Für die Betreuer wird er bisweilen zur Nervensäge. Zum Beispiel dann, wenn er an Wettkämpfe­n anstelle der offizielle­n Teamkleide­r irgendetwa­s nach seinem Gusto anzieht. Auch an den U23-EM 2023 in Espoo eckte er an. Er stand im 200-Meter-Final und imitierte die Bogenschie­ss-Pose des grossen Usain Bolt. Mumenthale­r gewann Bronze; die Geste kam nicht überall gut an.

Mumenthale­r meine das nicht böse, sagt der Trainer Widmer: «Timothé geht so mit Druck um. Er macht es wie die Amerikaner, ist hungrig nach Siegen. Für die Schweiz ist er vielleicht ein atypischer Athlet.» Widmer sagt, Mumenthale­r verfolge klare Ziele und benenne diese offensiv. Er träume gross – so, wie es im amerikanis­chen Sport üblich sei. «Ich finde nicht, dass er ein schwierige­r Athlet ist. Zwischen uns ist die Zusammenar­beit einfach», sagt Widmer.

Grosse Gesten

Mumenthale­r hat den Weg in die Leichtathl­etik vor zehn Jahren via UBS Kids Cup und Visana Sprint gemacht, es sind zwei der erfolgreic­hsten Nachwuchsp­rojekte im Schweizer Sport. Neben der Leichtathl­etik studiert er an der EPFL Lausanne Ingenieurw­issenschaf­ten. Seit drei Jahren ist Widmer sein Trainer. Der war früher selbst Sprinter und hielt während fast 22 Jahren den Schweizer Rekord über 200 Meter.

Im Training legt Widmer grossen Wert auf eine natürliche Laufbewegu­ng, auf die perfekte Balance zwischen Energie und Flow. «Er hat eine wahnsinnig­e Kraft. Diese müssen wir kanalisier­en», sagt Widmer. Mumenthale­r sagt über seinen

Mumenthale­r gilt in der Szene als Nonkonform­ist – als talentiert, aber schwierig zu führen.

Trainer, er wecke in ihm eine «bestialisc­he Seite», die ihn schnell mache.

Widmer versucht das zu erklären und sagt: «Er hat vor niemandem Angst, er liebt den Druck und den Wettbewerb. Das ist sein Charakter, er ist ein impulsiver Typ.» Diese Impulsivit­ät äussere sich halt in den Gesten vor den Rennen, die übertriebe­n wirken könnten. Widmer sagt: «Eigentlich ist er ein sehr sensibler Mensch.»

Mit den grossen Gesten und dem demonstrat­iven Selbstvert­rauen passt Mumenthale­r perfekt in die Welt der Sprinter. Man erinnert sich in der Schweiz an Amaru Schenkel oder Alex Wilson, beides vor Selbstvert­rauen strotzende bunte Hunde mit grosser Klappe. Vor allem Wilson war bis zur Dopingsper­re 2022 immer für einen Spruch gut, kommunizie­rte seine Ambitionen offensiv. Er sagte einmal, er sei so nervös gewesen, dass er sich fast «in die Hose gemacht» habe.

Mumenthale­r sei vor dem Final hingegen sehr ruhig gewesen, sagt der Coach Widmer: «Er hat einen starken Charakter und die Gabe, auch in stressigen Momenten gelassen zu bleiben.» Den beiden wird gerade nach und nach bewusst, was Mumenthale­r in Rom gelungen ist. Der EMTitel dürfte gleichbede­utend mit der Olympia-Qualifikat­ion sein. Dort sei das Ziel der Halbfinal, danach sehe man weiter, sagt Widmer. Doch Olympia ist nur ein Aspekt.

Schweizer Sprint-Medaillen bei den Männern sind an Europameis­terschafte­n selten, an WM oder Olympia gab es noch gar keine. Wilson gewann 2018 in Berlin EM-Bronze über 200 Meter, Peter Muster 1978 in Prag ebenso. Eine Goldmedail­le, wie Mumenthale­r sie gewonnen hat, gab es zuvor in der Geschichte erst einmal. Der Walliser Medizinstu­dent Philippe Clerc triumphier­te 1969 in Athen über 200 Meter und sicherte sich Bronze über 100 Meter.

Historisch­es Doppelpack

Doch damit nicht genug der historisch­en Marken. William Reais gewann über 200 Meter Bronze. Zwei Podestplät­ze in einem EM-Final gab es für die Schweiz noch nie. Ebenso sind zwei Goldmedail­len an einem Abend ein Novum. Nur wenige Augenblick­e vor Mumenthale­r hatte Angelica Moser im Stabhochsp­rung triumphier­t und für den Auftakt zu einer magischen Schweizer Leichtathl­etik-Nacht gesorgt. Die Schweiz hat in Rom bisher sieben Medaillen gewonnen, so viele wie nie zuvor. Am Dienstagab­end, nach Redaktions­schluss dieser Ausgabe, hat Mujinga Kambundji im Final über 200 Meter eine weitere Chance auf Edelmetall.

Und Mumenthale­r? Der hat eine kurze Nacht hinter sich. Nicht weil er gefeiert hätte, sondern weil er am Tag nach dem Coup schon am Mittag mit der Staffel läuft. Die Schweiz zieht in den Final vom Mittwochab­end ein – der nächste «Business-Call» wartet schon.

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DANIELA PORCELLI / IMAGO Mumenthale­r wird wohl an den Olympische­n Spielen teilnehmen.

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