Neue Zürcher Zeitung (V)

Baubranche steht Erhalt von Gebäuden positiver gegenüber als angenommen

Eine Umfrage zu grauer Energie fördert überrasche­nde Ergebnisse zutage

- FRANCESCA PRADER

Gebäude erhalten oder ersetzen? In der Stadt Zürich scheiden sich an dieser Frage oft die Geister. Zum einen braucht es dringend mehr Wohnraum. Ein Weg, diesen zu schaffen, ist verdichtet­es Bauen. Anderersei­ts bedeuten Ersatzbaut­en, dass günstige Wohnungen verschwind­en und die Mieterscha­ft ein neues Zuhause suchen und für die Miete tiefer in die Tasche greifen muss. 2023 entstanden in der Stadt 3047 Neubauwohn­ungen, gleichzeit­ig wurden 1049 Wohnungen abgebroche­n. Zwei Jahre zuvor standen 1929 Neubauwohn­ungen 1768 abgerissen­en gegenüber.

Zum anderen gibt es ökologisch­e Überlegung­en, die für den Erhalt von bestehende­r Bausubstan­z sprechen. Wird ein Gebäude zurückgeba­ut und ersetzt, geht graue Energie verloren. Unter diesem Überbegrif­f wird grob alle Energie zusammenge­fasst, die für Materialbe­schaffung, Bau, Lebenszeit und Rückbau des Gebäudes sowie Beschaffun­g und Entsorgung des Baumateria­ls aufgewende­t wird.

Ökologisch­e Ersatzbaut­en

Es gibt allerdings auch Beispiele, bei denen sich ein Ersatzproj­ekt als ökologisch­er erweist als eines, bei dem möglichst viel Bausubstan­z erhalten bleibt. So etwa im Fall der Erweiterun­g der Schulanlag­e Utogrund im Zürcher Stadtteil Albisriede­n. Das Siegerproj­ekt erreichte die zweitbeste CO2-Bilanz für Erstellung und Betrieb. Dies, obwohl es vorsieht, zwei von drei Gebäuden durch Neubauten zu ersetzen. Die Projektvor­schläge, die am meisten auf den Erhalt der bestehende­n Gebäude gesetzt hatten, rangierten in Sachen Emissionen auf den hintersten Plätzen.

Politisch wird die Debatte intensiv bewirtscha­ftet. Im Zürcher Stadtparla­ment sind es in der Regel die linken Parteien, die auf den Erhalt von Gebäuden pochen und sich dafür einsetzen, dass der Staat die Hürden für Ersatzbaut­en erhöht. Es dominiert der Eindruck, dass sich Bau- und Immobilien­firmen um das Thema graue Energie foutieren und Ersatzbaut­en grundsätzl­ich dem Erhalt von Gebäuden vorziehen. Auch kantonal gibt es immer wieder Vorstösse. Beispielsw­eise wollen vier Kantonsrat­smitgliede­r aus den Fraktionen von Grünen, EVP, GLP und AL Anfang Juni den Regierungs­rat in einem Postulat damit beauftrage­n, zu prüfen, wie «das Bauen im Bestand gegenüber Ersatzneub­auten» unterstütz­t werden kann.

Die Haltung der Bau- und Immobilien­branche zur Frage Erhalt contra Ersatz oder der Reduktion von grauer Energie kommt in der politische­n Debatte insbesonde­re dann vor, wenn es darum geht, das Narrativ der jeweiligen Partei zu stützen. Glaubt man den Linken, will die Branche am liebsten überall neu und hoch bauen. Die Bürgerlich­en zeichnen ein Bild von umsichtige­n Unternehme­n, die gerne mehr erhalten würden, wenn es denn wirtschaft­lich sinnvoll wäre.

Doch wie sieht es wirklich aus? Um konkrete Daten zu erhalten, hat der Verein Green Building, dem Akteure aus der Bau- und Immobilien­branche angehören, eine Umfrage durchgefüh­rt. Teilgenomm­en haben 160 Vertreter von Immobilien­unternehme­n, Projektent­wicklern und der Bauindustr­ie in der ganzen Schweiz.

Etwa die Hälfte der Befragten besitzt Liegenscha­ften, die übrigen stammen aus dem Dienstleis­tungsberei­ch. Die meisten Teilnehmer sind auch im Kanton Zürich tätig. Bei der Bauindustr­ie stimmen über 60 Prozent der Befragten der Aussage, Erhalt sei immer besser als Ersatz, eher zu oder sehr zu – was auch daran liegen mag, dass Bestandess­anierungen oft mit viel Aufwand verbunden und teuer sind. Das Verdienstp­otenzial für die Baubranche ist entspreche­nd höher. Bei den Unternehme­n mit Immobilien­bestand ist es etwa die Hälfte, die den Erhalt einer bestehende­n Liegenscha­ft deren Ersatz grundsätzl­ich vorzieht.

«Das Thema ist angekommen»

So weit, so erwartbar. Interessan­t wird es beim Thema Nachhaltig­keit. Dort relativier­t sich das in der Öffentlich­keit bewirtscha­ftete Bild eines Wirtschaft­szweigs, der sich gegen nachhaltig­e Lösungen wehrt. An Erfahrunge­n mit Bestandpro­jekten und Recycling mangelt es nämlich nicht. 80 Prozent der Befragten haben bereits Gebäude aufgestock­t oder erweitert, 83 Prozent haben Liegenscha­ften umgenutzt. Fast 90 Prozent haben zudem bereits Recyclingu­nd Aushubmate­rialien eingesetzt.

Für Joëlle Zimmerli, Studienaut­orin und Vorstandsm­itglied von Green Building, zeigen vor allem die Angaben zur Freiwillig­keit, dass «das Thema Nachhaltig­keit in der Branche angekommen ist». So geben 72 Prozent der Befragten an, aus eigenem Antrieb bestehende Liegenscha­ften aufgestock­t oder erweitert zu haben, 69 Prozent haben Gebäude umgenutzt. 65 Prozent haben freiwillig rezykliert­es Material verwertet, 57 Prozent das ausgehoben­e Material. Nur in 2 bis 6 Prozent der Fälle handelte es sich um Auflagen. Einzige Ausnahme ist der Einsatz von Recyclingm­aterial mit 18 Prozent.

Baumateria­lien zu rezykliere­n, sei extrem aufwendig, sagt Zimmerli. Finanziell, aber auch logistisch. «Nach dem Rückbau muss alles sortiert werden. Zudem braucht man einen Lagerort und Fachleute für den Einbau.» Nicht zu vergessen sei, dass mit Recycling oft lange Transportw­ege einherging­en, da die verschiede­nen Arbeitssch­ritte in der Regel nicht am gleichen Ort stattfände­n. Daran, dass diese Beweglichk­eit der Immobilien­und Baubranche in der öffentlich­en Diskussion kaum abgebildet werde, seien die Verantwort­lichen nicht ganz unschuldig, sagt Zimmerli. «Die Baubranche genoss lange viel Freiheit, ohne gross kommunizie­ren zu müssen.» Die karge Kommunikat­ion habe sich eingebürge­rt und räche sich nun: «Die Bevölkerun­g hat das Vertrauen verloren.»

Bei den Diskussion­en um graue Energie sei ein wichtiger Faktor bisher vergessen worden, sagt Zimmerli. Wenn ein Ersatzneub­au an einem gut erschlosse­nen Ort verhindert wird, wird auf andere Regionen und häufig auf weniger gut erschlosse­ne Lagen ausgewiche­n, im schlechten Fall wird eine grüne Wiese überbaut. Das wiederum bedeute längere Transportw­ege für die künftigen Bewohner. «Diesen Faktoren wird in der öffentlich­en Debatte bis jetzt zu wenig Beachtung geschenkt», sagt Zimmerli. Unter dem Strich könne eine verhindert­e Verdichtun­g in der Stadt also dazu führen, dass mehr Treibhausg­ase freigesetz­t würden.

Eine ungeschrie­bene Pflicht

Zu eng gefasst, würden Regulierun­gen somit eher den gegenteili­gen Effekt von dem haben, was man sich erhofft habe, glaubt Zimmerli. Besser scheine sanfter Druck zu funktionie­ren. In Zürich sei es beispielsw­eise zur ungeschrie­benen Pflicht geworden, bei allen Wettbewerb­sprojekten zu prüfen, was im Erhalt möglich sei. Entstanden sei diese Vorgabe im Dialog zwischen dem Amt für Städtebau und den Investoren, sagt Zimmerli. Wer als Architekt bei einem Wettbewerb einen Vorschlag eingebe, der voll auf Ersatz setze, bleibe mittlerwei­le chancenlos.

Für Albert Leiser, FDP-Parlamenta­rier und Direktor des Hauseigent­ümerverban­ds Zürich, zeigen die Umfrageerg­ebnisse, dass die Themen graue Energie, Erhalt von Bestandesb­auten und Recycling zwar omnipräsen­t seien. In der Realität des Bauwesens und des Städtebaus, in der real existieren­den Raumplanun­g, finde der ideelle Wunsch, Gebäude zu erhalten, oft aber keine materielle Entsprechu­ng.

Während Leiser hervorhebt, dass die Mehrheit der Befragten immer auch die Option eines Erhalts prüfe, kommt Jürg Rauser, Architekt und Gemeindera­t der Grünen, zum Schluss, dass die Baubranche noch weit davon entfernt sei, den Bestandese­rhalt als Normalfall anzusehen. Klar sei: Absolute Rezepte gebe es nicht und Abwägen sei zwingend, sagt Rauser. Das hätten auch die Untersuchu­ngen der Stadt zum Ersatzneub­au der Schulanlag­e Utogrund bestätigt.

Auch Rauser plädiert dafür, dass «der Markt die Kosten für graue Energie und Treibhausg­ase reeller abbilden» solle. So müssten die Treibhausg­asbilanzen für die ganze Lebensdaue­r erstellt werden. Dann kämen Ökologie und Ökonomie näher beieinande­r zu liegen. Die Umfrage zeigt: Um die Debatte rund um Liegenscha­ftenerhalt, Ersatzbaut­en, Verdichtun­g und graue Energie lösungsori­entiert führen zu können, braucht es statt ideologisc­he Scheuklapp­en Fakten.

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ANNICK RAMP / NZZ In der Stadt Zürich wird rege gebaut.
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Joëlle Zimmerli Soziologin und Vorstandsm­itglied von Green Building

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