Neue Zürcher Zeitung (V)

Nach den Seniorinne­n die Inselbewoh­ner

Frühere Richterin des Europäisch­en Gerichtsho­fs für Menschenre­chte zeigt auf, wie man das Schweizer Recht dem Klimaurtei­l anpassen könnte

- DAVID BINER, KATHARINA FONTANA

Seit zwei Monaten streitet die Schweiz darüber, wie das Klima-Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fs für Menschenre­chte (EGMR) zu interpreti­eren ist. Zur Erinnerung: Der Gerichtsho­f rügt den Kleinstaat Schweiz, zu wenig gegen den globalen Klimawande­l zu unternehme­n und damit das Privat- und Familienle­ben älterer Frauen zu missachten, weil sie besonders stark unter der erhöhten Temperatur litten. Die Linke leitet aus dem Entscheid weitere Forderunge­n in der Klimapolit­ik ab. «Klimaschut­z ist ein Menschenre­cht», trommeln Grüne und SP, die Schweiz müsse sich nun viel ambitionie­rtere Ziele vor allem auch in den Bereichen Landwirtsc­haft oder Flugverkeh­r setzen.

Kein harmloser Entscheid

Die Mehrheit des Ständerats sieht es anders. Die kleine Kammer hat in der laufenden Sommersess­ion eine Erklärung verabschie­det, wonach die Forderunge­n des Urteils erfüllt seien und die Schweiz daher keinen Anlass sehe, dem Urteil «weitere Folge» zu geben. Am Mittwoch könnte der Nationalra­t nachziehen und eine Erklärung mit demselben Wortlaut verabschie­den. Politisch übersetzt würde dies bedeuten: So geht es mit Strassburg einfach nicht weiter. Aber wozu das alles?

Der EGMR kann die Schweiz nicht mit Sanktionen belegen, wenn sie auf das Urteil nicht reagiert. Warum also so viel Aufhebens um eine Erklärung des Parlaments, die angeblich nur einen symbolisch­en Wert hat? Wird hier nicht einfach nur Schattenbo­xen betrieben?

Recherchen zeigen, dass das Parlament sehr gute Gründe hat, sich dem Urteil entgegenzu­stellen. Der Entscheid ist keineswegs harmlos, sondern kann zum Einfallsto­r für viel weiter gehende Forderunge­n werden. So hat Helen Keller in der Anhörung vor der ständerätl­ichen Rechtskomm­ission aufgezeigt, wie man das Schweizer Recht anpassen könnte, um dem EGMR-Urteil Rechnung zu tragen. Keller war von 2011 bis 2020 Schweizer Richterin am EGMR, als Vorgängeri­n von Andreas Zünd. Nach dem Urteil sprach sie von einem «wegweisend­en» Entscheid, weil er «Vereinen und Verbänden in Klimafälle­n einen Zugang zum Gericht» sichere. Der EGMR hat zwar nicht die einzelnen Klimasenio­rinnen, aber ihren Verein als beschwerde­berechtigt anerkannt. Keller sieht hierin einen «Quantenspr­ung».

In der Anhörung betonte Keller zwar, dass sie im Moment keinen Handlungsb­edarf sehe. Gleichzeit­ig wies sie auf die Möglichkei­t hin, ein Verbandsbe­schwerdere­cht sui generis im Klimaschut­z einzuführe­n, nach den neuen Kriterien und Voraussetz­ungen des EGMR. Konkret heisst das, es müsste sich um einen Verein handeln, der seinen Kampf gegen den Klimawande­l in den Statuten verankert hat, er müsste von schweizwei­ter Bedeutung sein, einen nichtwirts­chaftliche­n Zweck verfolgen und – natürlich – die Interessen künftiger Generation­en verteidige­n. Eine solche Klagebefug­nis wäre also perfekt auf Nichtregie­rungsorgan­isationen (NGO) in der Schweiz wie Greenpeace, den WWF oder selbst Alliance Sud zugeschnit­ten. Eine NGO könnte auch mit einer Statutenän­derung dafür sorgen, dass sie die Bedingunge­n erfüllt. Für die frühere EGMR-Richterin steht nach dem Klima-Urteil jedenfalls fest, dass die Schweizer Gerichte die Klagebefug­nis von Vereinen fortan genauer prüfen müssen.

Klar ist: Die Einführung eines Verbandsbe­schwerdere­chts im Bereich des Klimaschut­zes hätte weitreiche­nde Folgen für den hiesigen Rechtsstaa­t. Während die Verbandskl­age im Bereich des Umweltschu­tzes dazu geführt hat, dass in den letzten Jahren kaum noch neue Stromprodu­ktion zugebaut werden konnte, besteht die Möglichkei­t, dass die Zahl der Klagen im Klimaberei­ch deutlich ansteigt.

Nicht das letzte Wort

In welche Richtung es gehen kann, zeigt der Fall Holcim. Seit über einem Jahr ist am Kantonsger­icht Zug eine Klage von vier Bewohnern der indonesisc­hen Insel Pari gegen den Schweizer Zementkonz­ern hängig. Orchestrie­rt wird das Verfahren vom Hilfswerk der Evangelisc­hreformier­ten Kirche Schweiz (Heks). Die Indonesier werfen Holcim vor, durch seinen CO2-Ausstoss für den Klimawande­l mitverantw­ortlich zu sein – und somit auch für die Überschwem­mungen, die ihre Lebensgrun­dlage bedrohten. Sie verlangen Entschädig­ung für erlittene Klimaschäd­en. Bis zum Entscheid des Zuger Kantonsger­ichts, ob eine Schweizer Firma für allfällige Klimaschäd­en am anderen Ende der Welt verantwort­lich gemacht werden kann, dürfte es noch geraume Zeit dauern. Der Protest der eidgenössi­schen Räte gegen das KlimaUrtei­l wäre ein Zeichen, dass man die Entwicklun­g hin zu einer Verrechtli­chung der Klimafrage nicht gutheisst und keine Klimaklage­n gegen Schweizer Unternehme­n haben will.

Natürlich wird das nicht das letzte Wort sein. Derzeit formiert sich die Koalition für die Konzernver­antwortung neu. Nach der gescheiter­ten Abstimmung von 2020 versucht sie dieses Mal, das von der EU jüngst verabschie­dete Lieferkett­engesetz für die Schweiz zu adaptieren. Es geht um Menschenre­chte, um Klimaschut­z und um ganz konkrete Fragen: Wer ist Täter, wer ist Opfer? Und vor allem: Wer entscheide­t?

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