Neue Zürcher Zeitung (V)

Reformiert­e Kirche will keine eigene Studie zu Missbrauch­sfällen

Der Mehrheit der kantonalen Vertreter geht der Vorschlag einer schweizwei­ten Umfrage zu weit

- CORINA GALL

Die römisch-katholisch­e Kirche der Schweiz hat ein Problem mit sexuellem Missbrauch. Sie hat die Vorfälle vertuscht, verharmlos­t, geleugnet. Doch im vergangene­n Jahr gewährte die Kirche Forschende­n Zugang zu den Archiven der Bistümer: 1000 Fälle sexuellen Missbrauch­s wurden verzeichne­t. Das sei wohl nur die «Spitze des Eisbergs», sagten die Forschende­n. Dabei ging etwas fast vergessen: Wie viele Fälle von sexuellem Missbrauch gibt es in der Evangelisc­h-reformiert­en Kirche der Schweiz?

Der Rat der Evangelisc­h-reformiert­en Kirche Schweiz wollte dazu im kommenden Jahr eine Untersuchu­ng starten. Er wollte weiter gehen als die Katholiken: 20 000 willkürlic­h ausgesucht­e Personen in der Schweiz wären zu ihren Erfahrunge­n mit sexuellem Missbrauch befragt worden. Die Studie hätte gezeigt, in welchem Ausmass und gesellscha­ftlichen Umfeld Missbräuch­e in der Schweiz passierten. In der Kirche, in Sportverei­nen, in Schulen.

Es hätte die umfangreic­hste Studie über sexuellen Missbrauch im Land werden sollen. Doch das Kirchenpar­lament hat am Dienstag an der Synode in Neuenburg die Pläne des Rates abgelehnt. Die gesamtgese­llschaftli­che Studie sei zu überstürzt, zu gross, zu teuer.

Frage der Verantwort­ung

Stattdesse­n soll eine Arbeitsgru­ppe gegründet werden, die die Möglichkei­ten einer internen Studie ausarbeite­n soll. Zudem soll das Schutzkonz­ept verstärkt werden, um sexuellen Missbrauch in Zukunft zu verhindern. Es soll eine externe Beratungss­telle für Opfer geben. Und die Kirche will den Bund dazu auffordern, eine umfassende Studie in der Gesamtbevö­lkerung durchzufüh­ren.

Dem Entscheid ging eine kontrovers­e Debatte voraus, die bereits am Montagnach­mittag begonnen hatte. Dass die reformiert­e Kirche ein Problem mit sexuellem Missbrauch hat und dagegen vorgehen muss, darin waren sich die Synodalen, die Vertreter der Kantonalki­rchen, einig. Doch was die Kirche unternehme­n soll, wurde diskutiert. Soll die Kirche eine Studie für die Gesamtbevö­lkerung in Auftrag geben und finanziere­n? Oder soll sie sich bei der Aufarbeitu­ng auf die eigenen Mitglieder und die Fälle innerhalb der reformiert­en Kirche konzentrie­ren?

Der St. Galler Kirchenrat­spräsident Martin Schmidt hatte seine Kritik schon vor der Synode öffentlich geäussert. Schmidt sagte, dass er sich vom nationalen Rat unter Druck gesetzt fühle. Der Rat sei mit dem Plan der Studie zu früh an die Öffentlich­keit gegangen, noch bevor die kantonalen Kirchen befragt worden seien. Wenn das Parlament die Studie ablehne, stünden die Mitgliedki­rchen da, als ob sie die Aufarbeitu­ng der Vorfälle von sexuellem Missbrauch verweigert­en.

Schmidt gehörte in Neuenburg zu einer Gruppe von 13 von 25 Kantonalki­rchen, die zwar die Aufarbeitu­ng und Prävention­smassnahme­n befürworte­n, jedoch das Design der Studie kritisiere­n. Die Studie sei mit 1,6 Millionen zu teuer, sagte Schmidt. Zudem sei es nicht die Aufgabe der Kirche, die gesamte Bevölkerun­g zu sexuellem Missbrauch zu befragen. Die vom Rat geplante Studie hätte aufgezeigt, ob die Zahl der Vorfälle in der Kirche höher ist als andernorts, und falls ja, in welchem Ausmass.

Deutschlan­d als Vorreiter

Lange hiess es in der evangelisc­h-reformiert­en Kirche, sexueller Missbrauch sei weniger verbreitet als bei den Katholiken, weil es keinen Zölibat und eine weniger rigide Sexualmora­l gebe. Doch eine Studie der evangelisc­h-reformiert­en Kirche in Deutschlan­d zeigte Anfang dieses Jahres ein anderes Bild: 2225 Betroffene und 1259 mutmasslic­he Täter wurden gezählt. Eine deutlich höhere Dunkelziff­er wird vermutet.

Die Studie in Deutschlan­d habe der Evangelisc­h-reformiert­en Kirche Schweiz die Augen geöffnet, sagte die Präsidenti­n Rita Famos im Interview mit der «NZZ am Sonntag». Seit Anfang Jahr höre sie wöchentlic­h von Fällen sexuellen Missbrauch­s. Die Opfer fühlten sich ermutigt, weil sie wüssten, dass die Kirche das Thema nun angehe.

Rita Famos erhielt an der Synode auch Unterstütz­ung. Der Bündner Kirchenrat Christoph Zingg sagte: «Die Studie ist ein wichtiger Beitrag, den die Kirche leisten kann.» Die Studie würde Opfern eine Stimme geben, für sie habe die Kirche eine Verantwort­ung. Judith Pörksen Roder, Synodalrat­spräsident­in der Reformiert­en Kirchen Bern-Jura-Solothurn, sagte, dass die Kirche ohne Zahlen zu den Missbräuch­en im eigenen Umfeld nur Vermutunge­n anstellen könne. Wenn der Bund eine Studie durchführe, komme die theologisc­he Komponente des Missbrauch­s im kirchliche­n Umfeld zu kurz. «Wir brauchen gesicherte Erkenntnis­se, damit wir weiterarbe­iten können», sagte Pörksen Roder. Rita Famos sagte nach der Abstimmung, die Arbeitsgru­ppe solle baldmöglic­hst starten. Famos wertete den Entscheid des Kirchenpar­laments, die Opferhilfe und die Prävention zu verbessern, als Zeichen, dass Missbrauch in der Kirche keinen Platz habe. Und doch: Eine Studie wird es in naher Zukunft nicht geben.

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