Waffenruhe in Gaza scheint greifbar
Die USA erhöhen den diplomatischen Druck auf allen Ebenen
Seit Monaten drängt Joe Biden die Hamas und Israel zu einem Waffenstillstand im Gazastreifen. Vor zehn Tagen lehnte sich der amerikanische Präsident gehörig aus dem Fenster, als er öffentlich erklärte: «Dieser Krieg muss enden.» Dabei skizzierte er einen dreistufigen Plan, der angeblich von Israel vorgeschlagen wurde. Es liege nun an der Hamas, dieser «umfassenden» Roadmap für einen «dauerhaften Waffenstillstand» zuzustimmen.
Am Montag legten die USA dem Uno-Sicherheitsrat nun eine Resolution vor, welche die amerikanischen Bemühungen für ein Ende der Gewalt in drei Phasen unterstützt. Selbst die Vetomächte Russland und China, die den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober bisher nicht klar verurteilten, torpedierten die Vorlage nicht. Peking votierte für die Resolution, Moskau enthielt sich. So lautete das Endergebnis 14 zu 0 Stimmen für den amerikanischen Vorschlag.
«Ein Zeichen der Hoffnung»
Gleichzeitig traf sich der amerikanische Aussenminister Antony Blinken am Montag und Dienstag in Israel mit Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sowie mit den Oppositionsführern Yair Lapid und Benny Gantz. Besonders Netanyahu hat sich bisher zweideutig zum mehrstufigen Plan für eine Waffenruhe geäussert. Der Regierungschef wolle den Krieg zwar beenden, schreibt die israelische Tageszeitung «Haaretz». Aber zurzeit stehe nur Netanyahus Kriegskabinett hinter der Roadmap. Seine rechtsextremen Koalitionspartner Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich gehören nicht zu diesem Führungsgremium. Sie haben damit gedroht, die Regierung zu verlassen, sollte sich Netanyahu auf eine Waffenruhe einlassen. Blinken zeigte sich am Dienstag trotzdem zuversichtlich, dass der israelische Ministerpräsident zu dem Plan steht.
Die Hamas begrüsste am Montag die Uno-Resolution grundsätzlich. Sie sei zu indirekten Verhandlungen bereit, um deren Prinzipien umzusetzen, liess die islamistische Organisation in einer Erklärung verlauten. Diese Gesprächsbereitschaft sei «ein Zeichen der Hoffnung», sagte der amerikanische Aussenminister am Dienstag. Aber bis jetzt fehle eine Zustimmung der Hamas-Führung im Gazastreifen. «Das ist das, was zählt. Und das haben wir noch nicht», sagte Blinken.
So berechtigt die Hoffnung sein mag, der Plan für eine Waffenruhe kann noch an vielen Details scheitern. Die erste Phase sieht einen sechswöchigen Waffenstillstand vor. In dieser Zeit soll die Hamas israelische Frauen, Senioren und Kinder freilassen, die sie immer noch als Geiseln hält. Insgesamt befinden sich immer noch rund 120 Israeli in den Händen der Hamas, wobei vermutlich über 40 von ihnen nicht mehr leben. Im Gegenzug müsste Israel palästinensische Gefangene aushändigen und seine Streitkräfte aus den Ballungszentren im Gazastreifen zurückziehen. Zudem soll die Bevölkerung in ihre Häuser zurückkehren dürfen und die Lieferung humanitärer Hilfe verstärkt werden.
In einer zweiten Phase würden die restlichen Geiseln ausgetauscht. Israel müsste sich gleichzeitig ganz aus dem Gazastreifen zurückziehen. Solange die Verhandlungen in diesen Fragen zu keiner Einigung führen, soll die temporäre Waffenruhe verlängert werden. In einer dritten Phase würde der Wiederaufbau der palästinensischen Enklave beginnen. Dabei bleibt indes unklar, wer die Hamas im Gazastreifen als herrschende Kraft tatsächlich ersetzen könnte. Biden hofft, die Hamas mit einem glaubhaften Angebot für eine Zweistaatenlösung politisch isolieren zu können. Doch klare Mehrheiten unter den Israeli und den Palästinensern lehnen ein solches Szenario heute ab.
Auf israelischer Seite stellt sich in diesem kritischen Moment zudem die Frage, wie es mit dem Kriegskabinett und der Regierung insgesamt weitergehen soll. Der zentristische Oppositionsführer Gantz zog sich am Sonntag aus dem Kriegskabinett zurück und forderte Neuwahlen im Herbst. So geschwächt die Hamas heute sein mag, Israel scheint tief gespalten darüber zu sein, wie es mit ihr fertigwerden kann.
Biden braucht einen Erfolg
Aber auch wenn sich langfristig keine einfachen Lösungen im Nahostkonflikt abzeichnen, stehen für Biden zunächst kurzfristige Ziele im Vordergrund. Im Hinblick auf eine Wiederwahl im November braucht er unbedingt eine Waffenruhe. Der Krieg hat seine Demokratische Partei und seine Wählerschaft tief gespalten. Am vergangenen Wochenende demonstrierten in Washington vor dem Weissen Haus Tausende für eine Waffenruhe. «Stoppt die Finanzierung von Kriegsverbrechen», stand etwa auf den Plakaten. Will der Präsident verhindern, dass der Parteitag der Demokraten im August durch propalästinensische Protestaktionen und «Genocide Joe»-Rufe gestört wird, muss er im Nahen Osten schnell für Ruhe sorgen.
Gleichzeitig arbeitet Bidens Regierung im Hintergrund immer noch an einer diplomatischen Normalisierung der Beziehung zwischen Israel und Saudiarabien. In Anbetracht seiner eher durchzogenen aussenpolitischen Bilanz könnte Biden ein solches Abkommen als Erfolg verkaufen. Die saudische Bedingung für eine offizielle Versöhnung der beiden Länder scheint jedoch ein israelisches Commitment zu einem unabhängigen palästinensischen Staat zu sein.
Zu einem solch grossen Schritt ist Israel derzeit jedoch kaum bereit. Biden muss froh sein, wenn er mit einer temporären Waffenruhe zumindest ein kurzfristiges Ziel erreicht.
Abdallah al-Jamal gab den Palästinensern in Gaza eine Stimme. Für die palästinensische Online-Zeitung «The Palestine Chronicle» besuchte er Flüchtlingslager, sprach mit Kranken und berichtete mit viel Empathie über das Schicksal von «Märtyrern», die bei israelischen Angriffen getötet worden waren. Jamal klagte auch an: Der 36-Jährige verurteilte in seinen Texten die durch Israel verübten «Massaker» und den «Genozid» an den Palästinensern. Allein im vergangenen Mai publizierte er 14 Texte – um die Hamas ging es darin nie.
Nach eigenen Angaben beschäftigt «The Palestine Chronicle» «professionelle Journalisten und angesehene Schriftsteller», die keine politische Agenda verträten. Bei Abdallah al-Jamal scheint die stark israelkritische Zeitung aber nicht allzu genau hingeschaut zu haben. Denn einerseits amtete der junge Mann früher als Sprecher des Arbeitsministeriums in Gaza. Und andererseits hielt er nach Angaben der israelischen Streitkräfte (IDF) drei der vier Geiseln, die am Samstag befreit wurden, in seiner Wohnung im Flüchtlingslager Nuseirat fest.
Verifizieren lässt sich dies nicht. Allerdings hatte die Israel-kritische Nichtregierungsorganisation EuroMed Monitor mit Sitz in Genf schon am Samstag berichtet, israelische Soldaten hätten die Wohnung von Jamal bei ihrer Operation gestürmt. Dabei seien Jamal, seine Frau und sein Vater getötet worden. Die Geiseln wurden dabei nicht erwähnt. Dieselbe NGO säte noch am Sonntag Zweifel an der israelischen Darstellung. So sei Jamals Wohnhaus nur eines von sieben gewesen, welche die Armee gestürmt habe, eine Verbindung zu den Geiseln lasse sich nicht nachweisen. Bereits tobt der Informationskrieg um die Operation.
Zahlen nicht verifizierbar
Klar scheint jedoch, dass die vier am Samstag befreiten Geiseln nicht in Tunneln der Hamas, sondern in zwei Privatwohnungen in Nuseirat festgehalten wurden. Das Flüchtlingslager im zentralen Gazastreifen ist eines der wenigen Gebiete, in denen israelische Bodentruppen bisher kaum aktiv gewesen sind. Daher befinden sich dort viele durch den Krieg vertriebene Palästinenser. Israel wirft der Hamas vor, die Geiseln bewusst in dem dichtbesiedelten Gebiet festgehalten und so mit menschlichen Schutzschilden umgeben zu haben.
Laut dem von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium in Gaza sind bei der Befreiungsaktion am Samstag mindestens 274 Palästinenser getötet und 700 weitere verletzt worden, die meisten davon Frauen und Kinder. Israel spricht von weniger als 100 Getöteten. Beide Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Unklar ist auch, wie viele Hamas-Terroristen unter den Toten sind.
Schon vor dem eigentlichen Militäreinsatz zur Befreiung der Geiseln hatte die israelische Luftwaffe das Gebiet heftig bombardiert. Anschliessend drangen Spezialkräfte zu den Häusern vor, worauf heftige Feuergefechte in den Strassen von Nuseirat ausbrachen. Dabei wurde auch ein israelischer Offizier der AntiTerror-Einheit Yamam getötet. Laut israelischen Angaben war die Aktion während Wochen geplant worden.
Drei Geiseln laut Hamas getötet
Während in Israel die Befreiung der vier Geiseln frenetisch gefeiert wurde, sorgte die hohe Zahl ziviler Opfer international für scharfe Kritik. Josep Borrell, der Aussenbeauftragte der EU, sprach von einem «weiteren Massaker an Zivilisten» und forderte gleichzeitig die Freilassung aller israelischen Geiseln. Francesca Albanese, Sonderberichterstatterin der Uno für die palästinensischen Gebiete, warf Israel «in die Tat umgesetzte genozidale Absicht» vor.
Albanese sprach von einem «heimtückischen» Vorgehen der Israeli und «humanitärer Camouflage». Sie spielte damit auf Berichte in arabischen Medien an, wonach die israelischen Soldaten als palästinensische Flüchtlinge verkleidet ein Fahrzeug einer humanitären Organisation genutzt hatten, um in das Flüchtlingslager zu gelangen. Sollte dies zutreffen, hätte Israel womöglich gegen das gesetzliche Verbot der Heimtücke in bewaffneten Konflikten verstossen. Die israelische Armee bestritt die Vorwürfe allerdings. Auch Berichte, dass die IDF den von den USA errichteten humanitären Pier an der Küste des Gazastreifens für ihre Operation genutzt hätten, träfen nicht zu.
Am Montag veröffentlichten die IDF ein Video von der Operation in Nuseirat. Darin sind uniformierte Soldaten zu sehen, die eine Wohnung stürmen, in der sie die drei männlichen Geiseln finden.
Für die Hamas, die die israelischen Geiseln als menschliche Verhandlungsmasse missbraucht, ist die Operation vom Samstag ein Rückschlag. Sie behauptete nur Stunden später, dass die IDF bei der Aktion drei weitere Geiseln durch Luftangriffe selbst getötet hätten. Sie lieferte dafür jedoch keine stichhaltigen Beweise. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Terrororganisation versucht, mit psychologischer Kriegsführung Druck auf Israel auszuüben.
Hamas könnte Taktik ändern
Die «New York Times» berichtete am Sonntag unter Berufung auf israelische Beamte, dass die Hamas-Terroristen die Weisung hätten, die Geiseln sofort zu erschiessen, wenn sich die israelische Armee nähere. Beobachter gehen davon aus, dass die Hamas nun ihre Taktik überdenken wird, um weitere Befreiungs
Nach wie vor befinden sich rund 120 Geiseln im Gazastreifen. Die israelische Armee geht davon aus, dass 43 von ihnen bereits tot sind.
aktionen zu verunmöglichen. Es ist denkbar, dass sie fortan wieder mehr Geiseln in Tunneln statt in privaten Wohnungen verstecken wird.
So ist fraglich, ob in naher Zukunft ähnliche Befreiungsoperationen möglich sind. Bisher hat die Armee in drei verschiedenen Aktionen sieben Geiseln befreit. 105 Geiseln kamen im November im Rahmen eines Abkommens frei. Nach wie vor befinden sich aber rund 120 Geiseln im Gazastreifen. Die israelische Armee geht davon aus, dass 43 von ihnen bereits tot sind. Derweil stecken die Verhandlungen um ein erneutes Geiselabkommen weiterhin fest.