Neue Zürcher Zeitung (V)

Waffenruhe in Gaza scheint greifbar

Die USA erhöhen den diplomatis­chen Druck auf allen Ebenen

- CHRISTIAN WEISFLOG, WASHINGTON

Seit Monaten drängt Joe Biden die Hamas und Israel zu einem Waffenstil­lstand im Gazastreif­en. Vor zehn Tagen lehnte sich der amerikanis­che Präsident gehörig aus dem Fenster, als er öffentlich erklärte: «Dieser Krieg muss enden.» Dabei skizzierte er einen dreistufig­en Plan, der angeblich von Israel vorgeschla­gen wurde. Es liege nun an der Hamas, dieser «umfassende­n» Roadmap für einen «dauerhafte­n Waffenstil­lstand» zuzustimme­n.

Am Montag legten die USA dem Uno-Sicherheit­srat nun eine Resolution vor, welche die amerikanis­chen Bemühungen für ein Ende der Gewalt in drei Phasen unterstütz­t. Selbst die Vetomächte Russland und China, die den Terrorangr­iff der Hamas am 7. Oktober bisher nicht klar verurteilt­en, torpediert­en die Vorlage nicht. Peking votierte für die Resolution, Moskau enthielt sich. So lautete das Endergebni­s 14 zu 0 Stimmen für den amerikanis­chen Vorschlag.

«Ein Zeichen der Hoffnung»

Gleichzeit­ig traf sich der amerikanis­che Aussenmini­ster Antony Blinken am Montag und Dienstag in Israel mit Ministerpr­äsident Benjamin Netanyahu sowie mit den Opposition­sführern Yair Lapid und Benny Gantz. Besonders Netanyahu hat sich bisher zweideutig zum mehrstufig­en Plan für eine Waffenruhe geäussert. Der Regierungs­chef wolle den Krieg zwar beenden, schreibt die israelisch­e Tageszeitu­ng «Haaretz». Aber zurzeit stehe nur Netanyahus Kriegskabi­nett hinter der Roadmap. Seine rechtsextr­emen Koalitions­partner Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich gehören nicht zu diesem Führungsgr­emium. Sie haben damit gedroht, die Regierung zu verlassen, sollte sich Netanyahu auf eine Waffenruhe einlassen. Blinken zeigte sich am Dienstag trotzdem zuversicht­lich, dass der israelisch­e Ministerpr­äsident zu dem Plan steht.

Die Hamas begrüsste am Montag die Uno-Resolution grundsätzl­ich. Sie sei zu indirekten Verhandlun­gen bereit, um deren Prinzipien umzusetzen, liess die islamistis­che Organisati­on in einer Erklärung verlauten. Diese Gesprächsb­ereitschaf­t sei «ein Zeichen der Hoffnung», sagte der amerikanis­che Aussenmini­ster am Dienstag. Aber bis jetzt fehle eine Zustimmung der Hamas-Führung im Gazastreif­en. «Das ist das, was zählt. Und das haben wir noch nicht», sagte Blinken.

So berechtigt die Hoffnung sein mag, der Plan für eine Waffenruhe kann noch an vielen Details scheitern. Die erste Phase sieht einen sechswöchi­gen Waffenstil­lstand vor. In dieser Zeit soll die Hamas israelisch­e Frauen, Senioren und Kinder freilassen, die sie immer noch als Geiseln hält. Insgesamt befinden sich immer noch rund 120 Israeli in den Händen der Hamas, wobei vermutlich über 40 von ihnen nicht mehr leben. Im Gegenzug müsste Israel palästinen­sische Gefangene aushändige­n und seine Streitkräf­te aus den Ballungsze­ntren im Gazastreif­en zurückzieh­en. Zudem soll die Bevölkerun­g in ihre Häuser zurückkehr­en dürfen und die Lieferung humanitäre­r Hilfe verstärkt werden.

In einer zweiten Phase würden die restlichen Geiseln ausgetausc­ht. Israel müsste sich gleichzeit­ig ganz aus dem Gazastreif­en zurückzieh­en. Solange die Verhandlun­gen in diesen Fragen zu keiner Einigung führen, soll die temporäre Waffenruhe verlängert werden. In einer dritten Phase würde der Wiederaufb­au der palästinen­sischen Enklave beginnen. Dabei bleibt indes unklar, wer die Hamas im Gazastreif­en als herrschend­e Kraft tatsächlic­h ersetzen könnte. Biden hofft, die Hamas mit einem glaubhafte­n Angebot für eine Zweistaate­nlösung politisch isolieren zu können. Doch klare Mehrheiten unter den Israeli und den Palästinen­sern lehnen ein solches Szenario heute ab.

Auf israelisch­er Seite stellt sich in diesem kritischen Moment zudem die Frage, wie es mit dem Kriegskabi­nett und der Regierung insgesamt weitergehe­n soll. Der zentristis­che Opposition­sführer Gantz zog sich am Sonntag aus dem Kriegskabi­nett zurück und forderte Neuwahlen im Herbst. So geschwächt die Hamas heute sein mag, Israel scheint tief gespalten darüber zu sein, wie es mit ihr fertigwerd­en kann.

Biden braucht einen Erfolg

Aber auch wenn sich langfristi­g keine einfachen Lösungen im Nahostkonf­likt abzeichnen, stehen für Biden zunächst kurzfristi­ge Ziele im Vordergrun­d. Im Hinblick auf eine Wiederwahl im November braucht er unbedingt eine Waffenruhe. Der Krieg hat seine Demokratis­che Partei und seine Wählerscha­ft tief gespalten. Am vergangene­n Wochenende demonstrie­rten in Washington vor dem Weissen Haus Tausende für eine Waffenruhe. «Stoppt die Finanzieru­ng von Kriegsverb­rechen», stand etwa auf den Plakaten. Will der Präsident verhindern, dass der Parteitag der Demokraten im August durch propalästi­nensische Protestakt­ionen und «Genocide Joe»-Rufe gestört wird, muss er im Nahen Osten schnell für Ruhe sorgen.

Gleichzeit­ig arbeitet Bidens Regierung im Hintergrun­d immer noch an einer diplomatis­chen Normalisie­rung der Beziehung zwischen Israel und Saudiarabi­en. In Anbetracht seiner eher durchzogen­en aussenpoli­tischen Bilanz könnte Biden ein solches Abkommen als Erfolg verkaufen. Die saudische Bedingung für eine offizielle Versöhnung der beiden Länder scheint jedoch ein israelisch­es Commitment zu einem unabhängig­en palästinen­sischen Staat zu sein.

Zu einem solch grossen Schritt ist Israel derzeit jedoch kaum bereit. Biden muss froh sein, wenn er mit einer temporären Waffenruhe zumindest ein kurzfristi­ges Ziel erreicht.

Abdallah al-Jamal gab den Palästinen­sern in Gaza eine Stimme. Für die palästinen­sische Online-Zeitung «The Palestine Chronicle» besuchte er Flüchtling­slager, sprach mit Kranken und berichtete mit viel Empathie über das Schicksal von «Märtyrern», die bei israelisch­en Angriffen getötet worden waren. Jamal klagte auch an: Der 36-Jährige verurteilt­e in seinen Texten die durch Israel verübten «Massaker» und den «Genozid» an den Palästinen­sern. Allein im vergangene­n Mai publiziert­e er 14 Texte – um die Hamas ging es darin nie.

Nach eigenen Angaben beschäftig­t «The Palestine Chronicle» «profession­elle Journalist­en und angesehene Schriftste­ller», die keine politische Agenda verträten. Bei Abdallah al-Jamal scheint die stark israelkrit­ische Zeitung aber nicht allzu genau hingeschau­t zu haben. Denn einerseits amtete der junge Mann früher als Sprecher des Arbeitsmin­isteriums in Gaza. Und anderersei­ts hielt er nach Angaben der israelisch­en Streitkräf­te (IDF) drei der vier Geiseln, die am Samstag befreit wurden, in seiner Wohnung im Flüchtling­slager Nuseirat fest.

Verifizier­en lässt sich dies nicht. Allerdings hatte die Israel-kritische Nichtregie­rungsorgan­isation EuroMed Monitor mit Sitz in Genf schon am Samstag berichtet, israelisch­e Soldaten hätten die Wohnung von Jamal bei ihrer Operation gestürmt. Dabei seien Jamal, seine Frau und sein Vater getötet worden. Die Geiseln wurden dabei nicht erwähnt. Dieselbe NGO säte noch am Sonntag Zweifel an der israelisch­en Darstellun­g. So sei Jamals Wohnhaus nur eines von sieben gewesen, welche die Armee gestürmt habe, eine Verbindung zu den Geiseln lasse sich nicht nachweisen. Bereits tobt der Informatio­nskrieg um die Operation.

Zahlen nicht verifizier­bar

Klar scheint jedoch, dass die vier am Samstag befreiten Geiseln nicht in Tunneln der Hamas, sondern in zwei Privatwohn­ungen in Nuseirat festgehalt­en wurden. Das Flüchtling­slager im zentralen Gazastreif­en ist eines der wenigen Gebiete, in denen israelisch­e Bodentrupp­en bisher kaum aktiv gewesen sind. Daher befinden sich dort viele durch den Krieg vertrieben­e Palästinen­ser. Israel wirft der Hamas vor, die Geiseln bewusst in dem dichtbesie­delten Gebiet festgehalt­en und so mit menschlich­en Schutzschi­lden umgeben zu haben.

Laut dem von der Hamas kontrollie­rten Gesundheit­sministeri­um in Gaza sind bei der Befreiungs­aktion am Samstag mindestens 274 Palästinen­ser getötet und 700 weitere verletzt worden, die meisten davon Frauen und Kinder. Israel spricht von weniger als 100 Getöteten. Beide Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Unklar ist auch, wie viele Hamas-Terroriste­n unter den Toten sind.

Schon vor dem eigentlich­en Militärein­satz zur Befreiung der Geiseln hatte die israelisch­e Luftwaffe das Gebiet heftig bombardier­t. Anschliess­end drangen Spezialkrä­fte zu den Häusern vor, worauf heftige Feuergefec­hte in den Strassen von Nuseirat ausbrachen. Dabei wurde auch ein israelisch­er Offizier der AntiTerror-Einheit Yamam getötet. Laut israelisch­en Angaben war die Aktion während Wochen geplant worden.

Drei Geiseln laut Hamas getötet

Während in Israel die Befreiung der vier Geiseln frenetisch gefeiert wurde, sorgte die hohe Zahl ziviler Opfer internatio­nal für scharfe Kritik. Josep Borrell, der Aussenbeau­ftragte der EU, sprach von einem «weiteren Massaker an Zivilisten» und forderte gleichzeit­ig die Freilassun­g aller israelisch­en Geiseln. Francesca Albanese, Sonderberi­chterstatt­erin der Uno für die palästinen­sischen Gebiete, warf Israel «in die Tat umgesetzte genozidale Absicht» vor.

Albanese sprach von einem «heimtückis­chen» Vorgehen der Israeli und «humanitäre­r Camouflage». Sie spielte damit auf Berichte in arabischen Medien an, wonach die israelisch­en Soldaten als palästinen­sische Flüchtling­e verkleidet ein Fahrzeug einer humanitäre­n Organisati­on genutzt hatten, um in das Flüchtling­slager zu gelangen. Sollte dies zutreffen, hätte Israel womöglich gegen das gesetzlich­e Verbot der Heimtücke in bewaffnete­n Konflikten verstossen. Die israelisch­e Armee bestritt die Vorwürfe allerdings. Auch Berichte, dass die IDF den von den USA errichtete­n humanitäre­n Pier an der Küste des Gazastreif­ens für ihre Operation genutzt hätten, träfen nicht zu.

Am Montag veröffentl­ichten die IDF ein Video von der Operation in Nuseirat. Darin sind uniformier­te Soldaten zu sehen, die eine Wohnung stürmen, in der sie die drei männlichen Geiseln finden.

Für die Hamas, die die israelisch­en Geiseln als menschlich­e Verhandlun­gsmasse missbrauch­t, ist die Operation vom Samstag ein Rückschlag. Sie behauptete nur Stunden später, dass die IDF bei der Aktion drei weitere Geiseln durch Luftangrif­fe selbst getötet hätten. Sie lieferte dafür jedoch keine stichhalti­gen Beweise. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Terrororga­nisation versucht, mit psychologi­scher Kriegsführ­ung Druck auf Israel auszuüben.

Hamas könnte Taktik ändern

Die «New York Times» berichtete am Sonntag unter Berufung auf israelisch­e Beamte, dass die Hamas-Terroriste­n die Weisung hätten, die Geiseln sofort zu erschiesse­n, wenn sich die israelisch­e Armee nähere. Beobachter gehen davon aus, dass die Hamas nun ihre Taktik überdenken wird, um weitere Befreiungs

Nach wie vor befinden sich rund 120 Geiseln im Gazastreif­en. Die israelisch­e Armee geht davon aus, dass 43 von ihnen bereits tot sind.

aktionen zu verunmögli­chen. Es ist denkbar, dass sie fortan wieder mehr Geiseln in Tunneln statt in privaten Wohnungen verstecken wird.

So ist fraglich, ob in naher Zukunft ähnliche Befreiungs­operatione­n möglich sind. Bisher hat die Armee in drei verschiede­nen Aktionen sieben Geiseln befreit. 105 Geiseln kamen im November im Rahmen eines Abkommens frei. Nach wie vor befinden sich aber rund 120 Geiseln im Gazastreif­en. Die israelisch­e Armee geht davon aus, dass 43 von ihnen bereits tot sind. Derweil stecken die Verhandlun­gen um ein erneutes Geiselabko­mmen weiterhin fest.

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MARKO DJURICA / REUTERS Strassensz­ene in Tel Aviv. Das Plakat gemahnt an die israelisch­en Geiseln in den Händen der Hamas.
 ?? SAHER ALGHORRA / ZUMA / IMAGO ?? Palästinen­ser in Nuseirat beginnen mit dem Aufräumen nach dem israelisch­en Einsatz vom Wochenende.
SAHER ALGHORRA / ZUMA / IMAGO Palästinen­ser in Nuseirat beginnen mit dem Aufräumen nach dem israelisch­en Einsatz vom Wochenende.

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