Die Osteuropäer sollten mehr zu sagen haben
Der befürchtete Erdrutsch der «harten Rechten» ist bei der Europawahl ausgeblieben. Diese Parteien haben wohl zugelegt, aber die eigentliche Siegerin ist die Europäische Volkspartei (EVP), eine breite Mitte-rechts-Koalition. Sie ist auch die politische Heimat der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, ihre Chancen für eine Wiederwahl sind intakt.
In vielen Ländern im Osten und im Norden des Kontinents sind die Resultate der Rechtsaussenparteien schwächer ausgefallen als erwartet, etwa in Polen, Ungarn, Dänemark und in Finnland. Doch in den «Führungsnationen» der EU, in Deutschland und Frankreich, wurden die Regierungsparteien von der AfD beziehungsweise vom Rassemblement national (RN) brutal gedemütigt. Das ist ein Problem – aber nicht in erster Linie für die EU, sondern für Berlin und Paris. Präsident Emmanuel Macron sucht jetzt einen Ausweg, indem er Parlamentswahlen ankündigt. Wie die defekte Ampelkoalition damit umgeht, ist noch offen. Kanzler Scholz’ Temperament lässt erwarten, dass Berlin die Krise aussitzt.
Dass sich das Debakel nicht gesamteuropäisch auswuchs, verdankt die Union der Vielfalt ihrer 27 Mitgliedstaaten. Sie sind die primären politischen Räume, und es ist diese Kammerung, die die EU widerstandsfähig macht gegen heftige politische Ausschläge. Damit geht eine gewisse Trägheit einher, die man gelegentlich auch an der föderalistischen Schweiz feststellt und lobt.
Denn so eindrücklich die Erfolge des RN und in kleinerem Ausmass der AfD sind, in Ost- und Mitteleuropa etwa haben ihre Gesinnungsgenossen vergleichsweise schlecht abgeschnitten. In Polen, dem grössten Land der Region, schwingt stattdessen die Bürgerkoalition von Ministerpräsident Donald Tusk obenaus. Die angekündigte Revanche der nationalkonservativen PiS fiel ins Wasser.
In Ungarn bleibt Viktor Orbans Fidesz zwar die Nummer eins. Aber sie fuhr das schlechteste Resultat der letzten zwanzig Jahre ein. Der jugendliche Newcomer Peter Magyar grub Orban mit seiner Antikorruptionskampagne das Wasser ab. Es ist bezeichnend, dass Tusk angesichts der Misere in Paris und Berlin sagte, es sei jetzt hier in Polen, im Osten der Union, wo «die Demokratie triumphiert». Gemeint ist auch: Schluss mit den westeuropäischen Belehrungen.
Auf der Vielfalt und Trägheit dieser Union basieren also der Erfolg der EVP und ebenso die Aussichten für von der Leyen, nochmals Kommissionspräsidentin zu werden. Es ist noch früh für zuverlässige Prognosen. Aber eine Mitte-Koalition aus der EVP, den Sozialdemokraten und den Liberalen – vielleicht unterstützt durch die angeschlagenen Grünen – dürfte reichen, um ihr eine Mehrheit im Parlament zu verschaffen. Das sollte sie versuchen. Allerdings muss von der Leyen zuerst von den Staats- und Regierungschefs nominiert werden.
Von der Leyen hat in der Wahlnacht wiederholt, sie sei bereit, auch mit weiteren Parteien zusammenzuarbeiten. Und sie hat das Angebot klipp und klar an drei Voraussetzungen gebunden. Kooperiert wird nur mit jenen, die «pro Ukraine sind, pro Rechtsstaat und pro EU», also gegen deren Rückbau. Geht unter diesen Umständen der Flirt zwischen von der Leyen und Giorgia Meloni weiter? Wird er zu einer stabileren Beziehung?
Die Welt sei aus den Fugen, sagte die Kommissionspräsidentin in der Nacht auf Montag. «Doch die Mitte hält!» Das stimmt. Aber sie tut es nicht mit, sondern trotz Deutschland und Frankreich. Das traditionelle Tandem ist kaputt. Und so hat sich an diesem Wochenende der Schwerpunkt der EU – die Mitte Europas – nochmals ein Stück weiter nach Osten verschoben. Dem muss bei der Besetzung der Spitzenposten Rechnung getragen werden.
Das Temperament von Bundeskanzler Scholz lässt erwarten, dass Berlin die Krise aussitzen wird.