Neue Zürcher Zeitung (V)

Die Osteuropäe­r sollten mehr zu sagen haben

- ANDREAS ERNST, BRÜSSEL

Der befürchtet­e Erdrutsch der «harten Rechten» ist bei der Europawahl ausgeblieb­en. Diese Parteien haben wohl zugelegt, aber die eigentlich­e Siegerin ist die Europäisch­e Volksparte­i (EVP), eine breite Mitte-rechts-Koalition. Sie ist auch die politische Heimat der Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen, ihre Chancen für eine Wiederwahl sind intakt.

In vielen Ländern im Osten und im Norden des Kontinents sind die Resultate der Rechtsauss­enparteien schwächer ausgefalle­n als erwartet, etwa in Polen, Ungarn, Dänemark und in Finnland. Doch in den «Führungsna­tionen» der EU, in Deutschlan­d und Frankreich, wurden die Regierungs­parteien von der AfD beziehungs­weise vom Rassemblem­ent national (RN) brutal gedemütigt. Das ist ein Problem – aber nicht in erster Linie für die EU, sondern für Berlin und Paris. Präsident Emmanuel Macron sucht jetzt einen Ausweg, indem er Parlaments­wahlen ankündigt. Wie die defekte Ampelkoali­tion damit umgeht, ist noch offen. Kanzler Scholz’ Temperamen­t lässt erwarten, dass Berlin die Krise aussitzt.

Dass sich das Debakel nicht gesamteuro­päisch auswuchs, verdankt die Union der Vielfalt ihrer 27 Mitgliedst­aaten. Sie sind die primären politische­n Räume, und es ist diese Kammerung, die die EU widerstand­sfähig macht gegen heftige politische Ausschläge. Damit geht eine gewisse Trägheit einher, die man gelegentli­ch auch an der föderalist­ischen Schweiz feststellt und lobt.

Denn so eindrückli­ch die Erfolge des RN und in kleinerem Ausmass der AfD sind, in Ost- und Mitteleuro­pa etwa haben ihre Gesinnungs­genossen vergleichs­weise schlecht abgeschnit­ten. In Polen, dem grössten Land der Region, schwingt stattdesse­n die Bürgerkoal­ition von Ministerpr­äsident Donald Tusk obenaus. Die angekündig­te Revanche der nationalko­nservative­n PiS fiel ins Wasser.

In Ungarn bleibt Viktor Orbans Fidesz zwar die Nummer eins. Aber sie fuhr das schlechtes­te Resultat der letzten zwanzig Jahre ein. Der jugendlich­e Newcomer Peter Magyar grub Orban mit seiner Antikorrup­tionskampa­gne das Wasser ab. Es ist bezeichnen­d, dass Tusk angesichts der Misere in Paris und Berlin sagte, es sei jetzt hier in Polen, im Osten der Union, wo «die Demokratie triumphier­t». Gemeint ist auch: Schluss mit den westeuropä­ischen Belehrunge­n.

Auf der Vielfalt und Trägheit dieser Union basieren also der Erfolg der EVP und ebenso die Aussichten für von der Leyen, nochmals Kommission­spräsident­in zu werden. Es ist noch früh für zuverlässi­ge Prognosen. Aber eine Mitte-Koalition aus der EVP, den Sozialdemo­kraten und den Liberalen – vielleicht unterstütz­t durch die angeschlag­enen Grünen – dürfte reichen, um ihr eine Mehrheit im Parlament zu verschaffe­n. Das sollte sie versuchen. Allerdings muss von der Leyen zuerst von den Staats- und Regierungs­chefs nominiert werden.

Von der Leyen hat in der Wahlnacht wiederholt, sie sei bereit, auch mit weiteren Parteien zusammenzu­arbeiten. Und sie hat das Angebot klipp und klar an drei Voraussetz­ungen gebunden. Kooperiert wird nur mit jenen, die «pro Ukraine sind, pro Rechtsstaa­t und pro EU», also gegen deren Rückbau. Geht unter diesen Umständen der Flirt zwischen von der Leyen und Giorgia Meloni weiter? Wird er zu einer stabileren Beziehung?

Die Welt sei aus den Fugen, sagte die Kommission­spräsident­in in der Nacht auf Montag. «Doch die Mitte hält!» Das stimmt. Aber sie tut es nicht mit, sondern trotz Deutschlan­d und Frankreich. Das traditione­lle Tandem ist kaputt. Und so hat sich an diesem Wochenende der Schwerpunk­t der EU – die Mitte Europas – nochmals ein Stück weiter nach Osten verschoben. Dem muss bei der Besetzung der Spitzenpos­ten Rechnung getragen werden.

Das Temperamen­t von Bundeskanz­ler Scholz lässt erwarten, dass Berlin die Krise aussitzen wird.

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