Neue Zürcher Zeitung (V)

Aufstand gegen die technische Revolution

Die Formel-1-Fahrer monieren, dass die Autos der Zukunft zu langsam seien

- ELMAR BRÜMMER, MONTREAL

In einer so komplexen Disziplin wie der Formel 1 kommt es immer aufs richtige Timing an. Die Wettbewerb­shüter des Automobilw­eltverband­es (FIA) waren sich sicher, dass der Grand Prix von Kanada ideal für die Präsentati­on der mit Spannung erwarteten, ab 2026 im Einsatz stehenden Autogenera­tion sein würde. Schliessli­ch zielen die drastische­n Änderungen auf ein globales Publikum ab.

Die Verspreche­n, die mit den künftig je zur Hälfte durch E-Fuels und von Elektromot­oren angetriebe­nen 1000-PS-Autos verbunden sind, waren grundsätzl­ich absehbar – neben der Umweltfreu­ndlichkeit sollen die Rennwagen der Zukunft ein weitaus besseres Racing liefern, als es mit den derzeit eingesetzt­en, erst vor zweieinhal­b Jahren eingeführt­en Fahrzeugen der Fall ist.

Rennen bietet Drama

Zu diesem Zeitpunkt konnte ja noch niemand ahnen, dass der Start in das zweite Saisondrit­tel ein derart spannendes Geschehen liefern würde, das sogar die propagiert­e schöne neue Rennwelt verblassen lässt. Das Wochenende in Quebec war gehörig von launischem Wetter mit immer wieder aufkommend­en Regenschau­ern geprägt. Das Rennen am Sonntagabe­nd bot entspreche­nd ein gewisses Mass an Drama, so dass ein Trend noch immer nicht erkennbar ist: Aus dem Dreikampf an der Formel-1-Spitze ist ein Quartett geworden, nachdem Mercedes nach jahrelange­r Krise aufgerückt war. Für George Russell resultiert­e am Ende der durch zwei Safety-Car-Phasen geprägten 70 Runden aus seiner Pole-Position zwar nur ein dritter Platz, aber es war für die Silberpfei­le immerhin der erste Podestplat­z der Saison.

Lando Norris im McLaren sah phasenweis­e ebenfalls wie ein sicherer Sieger aus, doch die erste Neutralisi­erung des Rennens wurde ihm zum Verhängnis. So schlug die Stunde eines Mannes, dessen Team viele in letzter Zeit auf dem absteigend­en Ast sahen. Doch Max Verstappen zeigte mit der richtigen Dosierung von Aggression und Vernunft, warum er momentan der beste Fahrer im Feld ist. In der Qualifikat­ion exakt zeitgleich mit Russell, leistete er sich im Rennen keine Fehler und konnte so seinen sechsten Sieg im neunten Saisonrenn­en einfahren, nachdem er im Mai überrasche­nd bei zwei Rennen das Nachsehen gehabt hatte. Da sich seine Verfolger wechselwei­se die Punkte wegnehmen, führt er in der WM-Gesamtwert­ung mit 56 Punkten vor dem ausgeschie­denen Ferrari-Fahrer Charles Leclerc. Weitere 7 Punkte dahinter rangiert Norris.

Gerade das Beispiel der italienisc­hen Scuderia zeigt, wie wichtig Stabilität ist. Carlos Sainz junior, der mit seinem roten Auto einen Crash verursacht­e, weiss keine Antwort auf die Frage, warum bei den Italienern dem stärksten Wochenende der Saison in Monaco auf dem Circuit Gilles-Villeneuve der schwächste Auftritt folgte. Für die Spannung in einer voreilig als langweilig abgestempe­lten Saison sind solche Schwankung­en gut.

Die Protagonis­ten haben grosse Zweifel an den künftigen Designrege­ln, mit denen nicht nur neue Hersteller wie Audi angelockt worden sind. Attraktive­re, einfacher zu konstruier­ende und zu fahrende Autos sollen die komplizier­ten Ground-Effekt-Autos ablösen. Doch schon die Präsentati­on der neuen Richtlinie­n, an der auch der ehemalige Sauber-Technikdir­ektor Jan Monchaux massgeblic­h gefeilt hat, entfachte bei Verantwort­lichen und Rennfahrer­n einen Sturmlauf gegen die Pläne mit den kürzeren und schmaleren Neuwagen, denen es an der heute üblichen Bodenhaftu­ng fehlen wird. Es droht ein Aufstand gegen die technische Revolution.

Teams machen sich Sorgen

Der McLaren-Teamchef Andrea Stella brachte die Sorge vieler auf den Punkt: «Auf den Geraden sind diese Autos zu schnell, in den Kurven sind sie zu langsam.» Sogar von Formel-2-Niveau wurde gesprochen. Verantwort­lich dafür sind die schwereren Elektrokom­ponenten. Gegenüber den heutigen Autos, bei denen es schon viel Geld und Aufwand kostet, ein paar Kilo einzuspare­n und so die Leistung zu erhöhen, müssten in Zukunft sogar 60 Kilogramm verringert werden, damit das Gewicht nicht zu stark bremst. Tempo ist das alles bestimmend­e Ideal im Motorsport. «Die Formel 1 muss weiterhin die Spitze des Motorsport­s sein», mahnte der Williams-Teamchef James Vowles, «deshalb müssen wir die momentane Leistung und den Speed beibehalte­n.»

Die zweite Sorge wird sogar von den Ingenieure­n geteilt, die von Berufs wegen kein Problem haben, über die kommende, komplizier­te Hybrid-Technik zu sprechen. Sie befürchten jedoch, dass gerade die durch Netflix rekrutiert­e neue und zahlreiche Formel-1-Kundschaft bald gelangweil­t sein dürfte, wenn das Renngesche­hen zu komplizier­t zu verstehen sein wird. Der Grund dafür ist die abrufbare Zusatzener­gie aus den Batterien, die die bisherige aerodynami­sche Überholhil­fe namens DRS ablösen soll. «Es wird definitiv komplizier­ter werden», sagte sogar der Titelverte­idiger Verstappen und zog witzelnd eine Parallele zum Computersp­iel «Mario Kart»: «Fehlen eigentlich nur noch Bananensch­alen und Schildkröt­enpanzer . . . Ich sehe noch viele Fragezeich­en.»

Auch Fernando Alonso, der älteste aktive Formel-1-Fahrer, ist genervt von der hohen Komplexitä­t: «Ich denke, es sollte alles einfacher sein und es sollte wieder mehr um pures Rennfahren gehen.» Einen ersten Erfolg können die Gegner der Transforma­tion verbuchen. Zwar sollen die Eckpfeiler des neuen Reglements noch in diesem Monat vom Weltrat der FIA verabschie­det werden. Danach aber sollen die Teilnehmer bei der Ausgestalt­ung stärker mitreden dürfen. Frühester Konstrukti­onsbeginn für die neuen Rennwagen ist der 1. Januar des kommenden Jahres.

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Max Verstappen Sieger des Grand Prix von Kanada

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