Bei der Grande Dame platzt der Knoten
Mujinga Kambundji reist verunsichert an die EM in Rom – sie wird im 100-Meter-Final Letzte, ist aber trotzdem erleichtert
Diese Konstanz ist auf der europäischen Sprintbühne einzigartig. Mujinga Kambundji, 31 Jahre alt, stand in den letzten zehn Jahren immer im EM-Final über 100 Meter. 2016 in Amsterdam und 2022 in München gewann sie in der Königsdisziplin eine Bronze- und eine Silbermedaille.
Acht Medaillen hat Kambundji an Grossanlässen bisher gewonnen. Mehr Edelmetall heimste für die Schweizer Leichtathletik bisher nur der Kugelstösser Werner Günthör ein – vor über dreissig Jahren, in einer anderen Zeit also.
In Rom ging Kambundji für einmal leer aus; die Bernerin qualifizierte sich zwar als schnellste Dritte des Halbfinals für den Final, dort wurde sie allerdings nach einem Fehlstart Achte und somit Letzte. Zuvor hatte sie gesagt, sie wolle in Rom um die Medaillen laufen.
Von aussen sieht das nach einer Enttäuschung aus. Nach einem Absturz sogar? Doch Kambundji sagt: «Es war ein positiver Tag. Ich bin zufrieden mit meinem Wettkampf.» Zufrieden deshalb, weil sie mit grosser Ungewissheit an die Europameisterschaften gereist sei.
Aushängeschild der Schweiz
Kambundjis Stern war 2014 an den Heim-EM in Zürich aufgegangen, mit den Titelkämpfen im Letzigrund startete die Serie von fünf EM-Finalteilnahmen. In Zürich stürmte Kambundji zum ersten Mal in den 100-Meter-Final. Sie verpasste eine Medaille zwar knapp, wurde aber zum Shootingstar. In den folgenden Jahren entwickelte sie sich zum Schweizer Aushängeschild der Sportart. Sie ebnete einer ganzen Generation von Athletinnen und Athleten den Weg an die Spitze, wurde zur Grande Dame der hiesigen Leichtathletik.
Mittlerweile gehört Kambundji zu den ältesten Sprinterinnen im Feld; im EM-Final von Rom war die Konkurrenz teilweise deutlich jünger. Sie sagt: «Es ist schön, dass ich mithalten kann.» Doch Kambundji spürt, dass es nicht ewig so weitergehen wird mit den Finalqualifikationen – die Jahre an der Weltspitze haben Spuren hinterlassen im hochgezüchteten Sprinterinnen-Körper. Kambundji sagt: «Das nächste Mal ein schmerzfreies Jahr werde ich erleben, wenn ich zurückgetreten bin.»
Aus den körperlichen Problemen resultierte die Unsicherheit, mit der Kambundji nach Rom gereist war. Der vorläufig letzte Höhepunkt der Karriere war die Goldmedaille über 60 Meter an den Hallen-EM in Istanbul. Diese gewann Kambundji im März 2023. Es war der Beginn einer komplizierten Zeit.
Läufe an der Aare
Die vergangene Saison war bei Kambundji von einer Fussverletzung geprägt, die Plantarfaszie war entzündet. Das ist eine langwierige und schmerzhafte Blessur, von der kein Arzt genau sagen kann, wie lange die Beschwerden andauern werden. An den letzten WM in Budapest schied sie über 100 Meter im Halbfinal aus und verzichtete auf die 200 Meter.
Mittlerweile sei sie kaum mehr beeinträchtigt von der Fussverletzung, sagte Kambundji im Mai. Doch die Beschwerden prägten die Vorbereitung auf die laufende Saison, verunsicherten die Athletin. Das Jahr 2024 ist für Leichtathleten ein wichtiges, mit den EM und vor allem den Olympischen Spielen; 2021 in Tokio stand Kambundji über 100 Meter im Olympiafinal. Zu gerne würde sie diesen Erfolg wiederholen. Kambundjis Coach Florian Clivaz sagte im vergangenen Herbst zur NZZ, es sei alles auf Paris ausgerichtet. Dort will Kambundji über 100 m, 200 m und in der Staffel starten, behält sich aber vor, auf eine Disziplin zu verzichten, sollten körperliche Beschwerden auftreten.
Kambundji entschloss sich, auf die Hallensaison zu verzichten und daheim in Bern zu trainieren. In der Vorbereitung nahm sie Rücksicht auf den Körper, lief weniger in Carbonschuhen, die die Füsse stärker belasten. Schnelle Einheiten absolvierte sie statt auf der Tartanbahn auf natürlichem Untergrund oder entlang der Aare. Manchmal simulierte sie Sprints auf dem Spinning-Velo oder rannte bergauf. Das alles machte Kambundji, um die Schläge auf die Gelenke zu reduzieren. Die Grande Dame weiss, was es leiden mag.
Sie braucht die Vergleiche
Kambundji trainiert oft mit der jüngeren Schwester Ditaji, die in Rom die Silbermedaille über 100 Meter Hürden gewonnen hat. Das reicht als Konkurrenz. Früher hatte Mujinga Kambundji Mühe, alleine zu trainieren, sie brauchte die Vergleiche mit anderen Athletinnen. Deshalb arbeitete sie von 2013 bis 2017, am Anfang der Karriere, mit dem Trainer Valerij Bauer zusammen, der in Mannheim eine starke Gruppe aus Sprinterinnen betreute.
Heute sagt Kambundji: «Früher hatte ich Freude, wenn ich für Trainings ins Ausland reisen durfte. Mittlerweile ist mir die Routine lieber.» Einheiten im eigenen Rhythmus zu absolvieren, ist für sie wichtiger geworden als der Zeitenvergleich mit anderen Sprinterinnen. Die Grande Dame weiss, was sie in den Beinen hat.
Harziger Saisonstart
Trotz massgeschneidertem Training verlief Kambundjis Saisonstart harzig. Das Wettkampfjahr begann für sie mit zwei Meetings in China, über 200 Meter blieb sie dort über 23 Sekunden – bei einer persönlichen Bestleistung von 22,05.
Sie ebnete einer ganzen Generation von Athletinnen und Athleten den Weg an die Spitze.
Die 100 Meter lief sie an Wettkämpfen in der Schweiz und Tschechien nie unter 11,20 Sekunden. «Ich wusste vor den EM nicht, wo ich stehe», sagt sie. Die Grande Dame war ratlos.
Körperlich sei alles in Ordnung, auch die Kraft- und Schnelligkeitswerte hätten gepasst. Doch: «Ich habe viel Zeit gebraucht, um auf Touren zu kommen. Es hat einfach nicht ‹klick› gemacht.» Es fällt Kambundji schwer, dieses «Klick» zu erklären. In einigen Monaten wisse sie vielleicht, welches Detail nicht gestimmt habe. Auch wie gross die Ratlosigkeit vor den Europameisterschaften wirklich gewesen ist, behält sie für sich.
Spürbar ist hingegen nach dem 100-Meter-Final die Erleichterung. Im Halbfinal lief Kambundji 11,09 Sekunden, Saisonbestleistung. Sie sagt: «Jetzt hat sich der Knoten gelöst.» Es passe endlich alles zusammen.
Ob das stimmt, wird sich schon am Dienstagabend in Rom zeigen. Dann findet der EM-Final über 200 Meter statt. Über diese Distanz hat Kambundji zwar in den letzten zehn Jahren einmal den Final verpasst (2016 in Amsterdam). Doch im Stadio Olimpico tritt sie als aktuelle Europameisterin an.