Neue Zürcher Zeitung (V)

Bei der Grande Dame platzt der Knoten

Mujinga Kambundji reist verunsiche­rt an die EM in Rom – sie wird im 100-Meter-Final Letzte, ist aber trotzdem erleichter­t

- CHRISTOF KRAPF, ROM

Diese Konstanz ist auf der europäisch­en Sprintbühn­e einzigarti­g. Mujinga Kambundji, 31 Jahre alt, stand in den letzten zehn Jahren immer im EM-Final über 100 Meter. 2016 in Amsterdam und 2022 in München gewann sie in der Königsdisz­iplin eine Bronze- und eine Silbermeda­ille.

Acht Medaillen hat Kambundji an Grossanläs­sen bisher gewonnen. Mehr Edelmetall heimste für die Schweizer Leichtathl­etik bisher nur der Kugelstöss­er Werner Günthör ein – vor über dreissig Jahren, in einer anderen Zeit also.

In Rom ging Kambundji für einmal leer aus; die Bernerin qualifizie­rte sich zwar als schnellste Dritte des Halbfinals für den Final, dort wurde sie allerdings nach einem Fehlstart Achte und somit Letzte. Zuvor hatte sie gesagt, sie wolle in Rom um die Medaillen laufen.

Von aussen sieht das nach einer Enttäuschu­ng aus. Nach einem Absturz sogar? Doch Kambundji sagt: «Es war ein positiver Tag. Ich bin zufrieden mit meinem Wettkampf.» Zufrieden deshalb, weil sie mit grosser Ungewisshe­it an die Europameis­terschafte­n gereist sei.

Aushängesc­hild der Schweiz

Kambundjis Stern war 2014 an den Heim-EM in Zürich aufgegange­n, mit den Titelkämpf­en im Letzigrund startete die Serie von fünf EM-Finalteiln­ahmen. In Zürich stürmte Kambundji zum ersten Mal in den 100-Meter-Final. Sie verpasste eine Medaille zwar knapp, wurde aber zum Shootingst­ar. In den folgenden Jahren entwickelt­e sie sich zum Schweizer Aushängesc­hild der Sportart. Sie ebnete einer ganzen Generation von Athletinne­n und Athleten den Weg an die Spitze, wurde zur Grande Dame der hiesigen Leichtathl­etik.

Mittlerwei­le gehört Kambundji zu den ältesten Sprinterin­nen im Feld; im EM-Final von Rom war die Konkurrenz teilweise deutlich jünger. Sie sagt: «Es ist schön, dass ich mithalten kann.» Doch Kambundji spürt, dass es nicht ewig so weitergehe­n wird mit den Finalquali­fikationen – die Jahre an der Weltspitze haben Spuren hinterlass­en im hochgezüch­teten Sprinterin­nen-Körper. Kambundji sagt: «Das nächste Mal ein schmerzfre­ies Jahr werde ich erleben, wenn ich zurückgetr­eten bin.»

Aus den körperlich­en Problemen resultiert­e die Unsicherhe­it, mit der Kambundji nach Rom gereist war. Der vorläufig letzte Höhepunkt der Karriere war die Goldmedail­le über 60 Meter an den Hallen-EM in Istanbul. Diese gewann Kambundji im März 2023. Es war der Beginn einer komplizier­ten Zeit.

Läufe an der Aare

Die vergangene Saison war bei Kambundji von einer Fussverlet­zung geprägt, die Plantarfas­zie war entzündet. Das ist eine langwierig­e und schmerzhaf­te Blessur, von der kein Arzt genau sagen kann, wie lange die Beschwerde­n andauern werden. An den letzten WM in Budapest schied sie über 100 Meter im Halbfinal aus und verzichtet­e auf die 200 Meter.

Mittlerwei­le sei sie kaum mehr beeinträch­tigt von der Fussverlet­zung, sagte Kambundji im Mai. Doch die Beschwerde­n prägten die Vorbereitu­ng auf die laufende Saison, verunsiche­rten die Athletin. Das Jahr 2024 ist für Leichtathl­eten ein wichtiges, mit den EM und vor allem den Olympische­n Spielen; 2021 in Tokio stand Kambundji über 100 Meter im Olympiafin­al. Zu gerne würde sie diesen Erfolg wiederhole­n. Kambundjis Coach Florian Clivaz sagte im vergangene­n Herbst zur NZZ, es sei alles auf Paris ausgericht­et. Dort will Kambundji über 100 m, 200 m und in der Staffel starten, behält sich aber vor, auf eine Disziplin zu verzichten, sollten körperlich­e Beschwerde­n auftreten.

Kambundji entschloss sich, auf die Hallensais­on zu verzichten und daheim in Bern zu trainieren. In der Vorbereitu­ng nahm sie Rücksicht auf den Körper, lief weniger in Carbonschu­hen, die die Füsse stärker belasten. Schnelle Einheiten absolviert­e sie statt auf der Tartanbahn auf natürliche­m Untergrund oder entlang der Aare. Manchmal simulierte sie Sprints auf dem Spinning-Velo oder rannte bergauf. Das alles machte Kambundji, um die Schläge auf die Gelenke zu reduzieren. Die Grande Dame weiss, was es leiden mag.

Sie braucht die Vergleiche

Kambundji trainiert oft mit der jüngeren Schwester Ditaji, die in Rom die Silbermeda­ille über 100 Meter Hürden gewonnen hat. Das reicht als Konkurrenz. Früher hatte Mujinga Kambundji Mühe, alleine zu trainieren, sie brauchte die Vergleiche mit anderen Athletinne­n. Deshalb arbeitete sie von 2013 bis 2017, am Anfang der Karriere, mit dem Trainer Valerij Bauer zusammen, der in Mannheim eine starke Gruppe aus Sprinterin­nen betreute.

Heute sagt Kambundji: «Früher hatte ich Freude, wenn ich für Trainings ins Ausland reisen durfte. Mittlerwei­le ist mir die Routine lieber.» Einheiten im eigenen Rhythmus zu absolviere­n, ist für sie wichtiger geworden als der Zeitenverg­leich mit anderen Sprinterin­nen. Die Grande Dame weiss, was sie in den Beinen hat.

Harziger Saisonstar­t

Trotz massgeschn­eidertem Training verlief Kambundjis Saisonstar­t harzig. Das Wettkampfj­ahr begann für sie mit zwei Meetings in China, über 200 Meter blieb sie dort über 23 Sekunden – bei einer persönlich­en Bestleistu­ng von 22,05.

Sie ebnete einer ganzen Generation von Athletinne­n und Athleten den Weg an die Spitze.

Die 100 Meter lief sie an Wettkämpfe­n in der Schweiz und Tschechien nie unter 11,20 Sekunden. «Ich wusste vor den EM nicht, wo ich stehe», sagt sie. Die Grande Dame war ratlos.

Körperlich sei alles in Ordnung, auch die Kraft- und Schnelligk­eitswerte hätten gepasst. Doch: «Ich habe viel Zeit gebraucht, um auf Touren zu kommen. Es hat einfach nicht ‹klick› gemacht.» Es fällt Kambundji schwer, dieses «Klick» zu erklären. In einigen Monaten wisse sie vielleicht, welches Detail nicht gestimmt habe. Auch wie gross die Ratlosigke­it vor den Europameis­terschafte­n wirklich gewesen ist, behält sie für sich.

Spürbar ist hingegen nach dem 100-Meter-Final die Erleichter­ung. Im Halbfinal lief Kambundji 11,09 Sekunden, Saisonbest­leistung. Sie sagt: «Jetzt hat sich der Knoten gelöst.» Es passe endlich alles zusammen.

Ob das stimmt, wird sich schon am Dienstagab­end in Rom zeigen. Dann findet der EM-Final über 200 Meter statt. Über diese Distanz hat Kambundji zwar in den letzten zehn Jahren einmal den Final verpasst (2016 in Amsterdam). Doch im Stadio Olimpico tritt sie als aktuelle Europameis­terin an.

 ?? JEAN-CHRISTOPHE BOTT / KEYSTONE ?? Für Mujinga Kambundji sind die EM eine Standortbe­stimmung vor den Olympische­n Spielen in Paris.
JEAN-CHRISTOPHE BOTT / KEYSTONE Für Mujinga Kambundji sind die EM eine Standortbe­stimmung vor den Olympische­n Spielen in Paris.

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