Neue Zürcher Zeitung (V)

Vom Bürgenstoc­k nach Riad

Die Schweiz wird den Friedensgi­pfel wohl an die Saudi weitergebe­n

- DAVID BINER, BERN

Während sich die Schweiz auf das hochrangig­e Treffen mit Vertretern von über neunzig Staaten und Organisati­onen auf dem Bürgenstoc­k vorbereite­t, wird hinter den Kulissen über den zweiten Schritt des angestosse­nen Friedenspr­ozesses verhandelt. Seit geraumer Zeit verdichten sich die Zeichen dafür, dass der eigentlich­e Friedensgi­pfel – unter Beteiligun­g beider Kriegspart­eien – auf der Arabischen Halbinsel stattfinde­n könnte.

«Gemeinsame Interessen»

Bundespräs­identin Viola Amherd hat vergangene Woche am Fraktionsa­usflug der Mitte-Partei entspreche­nde Andeutunge­n gemacht. Man arbeite auf eine zweite Konferenz «in einem anderen Land und mit Russland» hin, sagte sie bei einem Podiumsges­präch. An einer gemeinsame­n Medienkonf­erenz am Montag hat Aussenmini­ster Ignazio Cassis bestätigt, dass Verhandlun­gen über eine mögliche Nachfolgek­onferenz in vollem Gang seien. Details wollte Cassis nicht verraten. Nur so viel, dass der in der Schweiz angestosse­ne Friedenspr­ozess «ausserhalb der westlichen Welt» fortgeführ­t werden solle, in einem Land des sogenannte­n globalen Südens oder aber in der arabischen Welt.

Cassis hatte am vergangene­n Donnerstag mit dem saudischen Aussenmini­ster, Prinz Faisal bin Farhan, telefonier­t und dabei über «gemeinsame Interessen» gesprochen, wie das saudische Aussenmini­sterium auf der Plattform X verlauten liess. Der FDP-Aussenpoli­tiker Hans-Peter Portmann sagt, dass er jüngst sehr gute Signale erhalten habe. Der Zürcher Nationalra­t hat erst vor kurzem eine parlamenta­rische Freundscha­ftsgruppe Schweiz - Saudiarabi­en ins Leben gerufen. Vertreter des Schura-Rats, eines beratenden Gremiums des saudischen Königs, haben während der Sommersess­ion das Bundeshaus besucht.

Ob die Schweiz bei allfällige­n Friedensve­rhandlunge­n in Riad noch eine Rolle spielt, ist derzeit offen. Könnte sie beratend mithelfen, einen Neutralitä­tsstatus für die Ukraine zu entwerfen? Die Antworten auf solche und ähnliche Fragen scheinen derzeit noch in weiter Ferne zu liegen. Die zuständige­n Bundesräte Amherd und Cassis hoffen, dass am Wochenende auf dem Bürgenstoc­k zunächst der Fahrplan für den weiteren Verlauf der Friedensbe­mühungen festgelegt werden kann. Die Schlusserk­lärung dazu ist bereits in der Konsultati­on zwischen den Teilnehmer­staaten.

Wettrennen um Vermittler­rolle

Saudiarabi­en ist nicht das einzige Land, das als Gastgeber für eine zweite Konferenz infrage kommt. China, Brasilien oder die Türkei werden immer wieder als mögliche Austragung­sorte genannt. Wenige Tage vor der ersten Konferenz auf dem Bürgenstoc­k lässt sich sagen: Die Schweiz hat es immerhin geschafft, einen Wettbewerb unter potenziell­en Friedensve­rmittlern auszulösen. Am Schluss entscheide­n ohnehin die beiden Kriegspart­eien, ob und wo sie sich zusammense­tzen wollen.

Ist die Schweiz bereit, den russischen Krieg in der Ukraine und mögliche Ansätze für einen Frieden zu balanciere­n? Und bereit, die internatio­nale Welt der Diplomatie und der Politik zu beherberge­n in einem Hotel auf dem Bürgenstoc­k? Das sind die Fragen, die Bundesräti­n Viola Amherd und Bundesrat Ignazio Cassis am Montagmorg­en in Bern beantworte­n mussten, genauso wie Divisionär Daniel Keller, der am Montagnach­mittag unterhalb des Bürgenstoc­ks im Dreck stand. Es sind noch wenige Tage bis zur Konferenz, und die Behörden haben für Medienleut­e eine Reise durch das Land organisier­t, per Reisecar von Bern in den Kanton Nidwalden und zurück, um zu beweisen, dass die Schweiz bereit ist. Ist sie das wirklich?

Amherd und Cassis verbunden

Als Bundespräs­identin Amherd und Aussenmini­ster Cassis am Morgen in Bern vor die Medien treten, wird das Komplizier­te ganz einfach. Und das Einfache komplizier­t. Beide Bundesräte wollen klarmachen: Es ist das Logischste der Welt, dass ein Frieden zwischen der Ukraine und Russland nur dann möglich ist, wenn sich beide Parteien gemeinsam an einen Tisch setzen. Warum das am Wochenende aber nicht der Fall sein wird, wenn sich auf dem Bürgenstoc­k die halbe Welt in Abwesenhei­t Russlands trifft, ist nicht so leicht zu vermitteln.

Das Verhältnis zwischen Amherd und Cassis war meist eher distanzier­t, seit sie gemeinsam im Bundesrat sitzen. Das hat sich geändert seit Januar und dem Besuch des ukrainisch­en Präsidente­n Selenski in der Schweiz. Amherd und Cassis liessen sich damals ein Stück weit treiben, von Selenskis Überzeugun­gskraft und von der Ohnmacht des Kleinstaat­es. Die Schweiz muss doch irgendetwa­s tun angesichts dieses schrecklic­hen Kriegs. Abseitszus­tehen, sei keine Option, betonen Amherd und Cassis seither immer wieder. Egal, was kommt: Sie werden über diese Konferenz verbunden bleiben – ob alles scheitert oder etwas gelingt.

Was, wenn Selenski die helvetisch­e Plattform auf dem Bürgenstoc­k nutzt, um sich Geld oder Waffen zu besorgen? Was, wenn Putin übers Wochenende die Intensität des Kriegs steigern lässt? Und wie wird die Neutralitä­t der Schweiz von den Ergebnisse­n der Konferenz tangiert – manövriert das Land sich in eine weltpoliti­sch aktivere Rolle? Und ist es dafür bereit?

Für die Schweiz scheint – und das ist eine diplomatis­che Neuheit – der Weg genauso wichtig zu sein wie das Resultat. Die Konferenz auf dem Bürgenstoc­k sei, anders als ursprüngli­ch kommunizie­rt, keine Friedensko­nferenz, geschweige denn ein Friedensgi­pfel. Sondern eine Konferenz zum Frieden. Allein die Vorbereitu­ng dazu habe eine positive Dynamik ausgelöst.

Schon in diesen Tagen wird die gemeinsame Schlusserk­lärung zwischen den Teilnehmer­staaten hin- und hergeschic­kt, abgeändert, ergänzt. Amherd und Cassis hoffen, dass man sich darauf einigen kann, wie und wo man fortan auch Russland einbeziehe­n kann. Der erste Schritt auf dem langen Weg in Richtung Frieden erfolgt auf dem Zirkularwe­g. Einen Schritt vor, zwei zurück, zwei vor, einen zurück, sagt Cassis. Als die Reise begann, wollten sie im Aussendepa­rtement Leerläufe vermeiden. Heute hofft man, dass es ja keinen Fehltritt gibt. Amherd betonte am Montag zum wiederholt­en Mal, dass die Konferenz wegen des breiten Teilnehmer­felds jetzt schon ein Erfolg sei.

Cassis zeigt sich etwas selbstkrit­ischer. Der Wunsch, sowohl die Ukraine als auch Russland dabei zu haben, sei nicht in Erfüllung gegangen. Der ukrainisch­e Unwille, Russland auf dem Bürgenstoc­k zu treffen, war genauso gross wie die Abneigung Russlands, an dieser Veranstalt­ung teilzunehm­en. Man habe, sagt Cassis schliessli­ch, Moskau nicht offiziell einladen wollen, weil man Angst gehabt habe, dass Putin zusage und man dafür die Ukraine «verloren» hätte.

Bis zu dieser Pressekonf­erenz am Montag einigte man sich in Bundesbern auf das Narrativ, wonach ein echter Friedensgi­pfel auf Schweizer Boden nur wegen Russland nicht möglich sei. Nun ist klar: Russland kommt auch deshalb nicht, weil die Ukraine dagegen ist. Und weil Russland nicht kommt, hat auch China abgesagt. Ob das Ganze nicht einfach eine Schuhnumme­r zu gross sei, fragte am Montag eine Journalist­in. «Nein», sagte Cassis.

Einige Stunden später holt Divisionär Daniel Keller die Diskussion auf den Boden der meteorolog­ischen Tatsachen herunter. Er steht unterhalb des Bürgenstoc­ks in einer dreckigen Wiese. Hinter ihm arbeiten Soldaten der Schweizer Armee daran, die Landeplätz­e für die Helikopter bereit zu machen. In den vergangene­n Tagen hat es geregnet, Divisionär Keller spricht von einer problemati­schen «Durchfeuch­tung des Bodens», aber «die Truppe wird die Herausford­erung zu meistern wissen».

Bis zu viertausen­d Soldaten

Das ist die Gleichzeit­igkeit, in der alle leben, die sich auf die Bürgenstoc­k-Konferenz vorbereite­n: Es geht um den Frieden auf der Welt und gleichzeit­ig um den Zustand von Wiesen. Divisionär Keller sagt, der Anlass sei einzigarti­g, noch nie sei gleichzeit­ig die Sicherheit derart vieler «völkerrech­tlich geschützte­r Personen» zu gewährleis­ten gewesen, aber man werde bereit sein, ja: «Wir müssen bereit sein.» Die Armee hat fünf Startund Landebahne­n für Helikopter eingericht­et, sie hat Zaunelemen­te in einer Länge von sechseinha­lb Kilometern aufgestell­t, sie wird die Konferenz mit bis zu viertausen­d Soldaten schützen.

Geleitet wird der Einsatz aber nicht vom Chef der Armee oder von einer Bundesräti­n, sondern von Stephan Grieder, dem Kommandant­en der Kantonspol­izei Nidwalden, die nur gerade über «genau gesagt 80,5 Vollzeitst­ellen» verfügt, wie er in eines der vielen Mikrofone sagt. Man werde aber von anderen Polizeien, vom Fedpol, von der Armee unterstütz­t, sagt Grieder. Er steht in der Turnhalle von Obbürgen, wo eine Akkreditie­rungsstell­e für Anwohnerin­nen und Anwohner eingericht­et ist – hier riecht die Weltpoliti­k nach Mattenwage­n. Wer ab Donnerstag­mittag in die Sicherheit­szone

Es geht um den Frieden auf der Welt und gleichzeit­ig um den Zustand von Wiesen.

kommen will, muss einen Badge abholen, die Bauern müssen auch ihre Traktoren akkreditie­ren.

Wie viele Leute einen Badge erhalten, wo die grösste Gefahr für die Sicherheit lauert und wie viele Cyberangri­ffe bereits abgewehrt worden sind, gibt Polizeikom­mandant Grieder den Medienleut­en nicht bekannt. Er wiederholt laufend: «Aus taktischen Gründen . . .» Draussen, schräg gegenüber der Turnhalle, wird ein Checkpoint aufgebaut, wo jedes Auto «mit Sensoren und auch mit geschulten Hunden komplett durchsucht wird». Ob man wirklich gerüstet sei, wenn etwa ein Auto an der Polizeikon­trolle vorbeirase, wird Stephan Grieder jetzt gefragt. «Sie können sicher sein», sagt er, «dass wir ein solches Auto in vernünftig­er Zeit stoppen könnten.»

Die grosse Frage stellt sich nicht nur in Bern, sondern auch hier, in diesem kleinen Dorf. Wird die Schweiz etwas für den Frieden machen können? Eines der Häuser, das zwischen der Turnhalle von Obbürgen und der Weltbühne auf dem Bürgenstoc­k liegt, ist mit einem Holzschild angeschrie­ben. Darauf steht «Bergfriede­n» – es ist ein Anfang.

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BORIS BÜRGISSER / LZM Willkommen in der Sicherheit­szone: Angehörige der Armee, direkt unterhalb des Hotels Bürgenstoc­k.

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