Neue Zürcher Zeitung (V)

Für von der Leyen wird es eng

Nach der Europawahl muss die EU-Kommission­s-Präsidenti­n um ihre Wiederwahl zittern

- DANIEL STEINVORTH, BRÜSSEL

Die politische Mitte behält die Mehrheit im Europäisch­en Parlament. Doch um Präsidenti­n der Kommission bleiben zu können, wird von der Leyen entweder auf die Grünen oder auf die Nationalko­nservative­n zugehen müssen. Das ist riskant.

«Wir haben die Europawahl­en gewonnen. Wir sind die stärkste Partei!», rief Ursula von der Leyen am Sonntagabe­nd ihren jubelnden Parteifreu­nden in einem Brüsseler Luxushotel zu. Der amtierende­n Kommission­schefin stand nach einem anstrengen­den WahlkampfE­ndspurt die Erleichter­ung ins Gesicht geschriebe­n.

Von der Leyen war jüngst in kurzer Abfolge nach Bulgarien, Schweden, Finnland, Portugal, Österreich und Deutschlan­d gereist, um bei Veranstalt­ungen der Europäisch­en Volksparte­i (EVP) noch einmal ihr Gesicht zu zeigen. Vor allem holte sich die deutsche CDU-Politikeri­n in den Hauptstädt­en den Segen für eine zweite Amtszeit als Kommission­spräsident­in ab.

Man muss sich in Erinnerung rufen, dass bei den Wahlen zum Europäisch­en Parlament die Bürger nur indirekt beeinfluss­en können, wer das wichtigste Amt der EU erhält. Von der Leyen warb bei den Wählern um Stimmen für die EVP. Aber mehr noch fühlte sie bei den Staats- und Regierungs­chefs vor, die sie erst nominieren müssen, bevor sie – allenfalls – von den Abgeordnet­en grünes Licht bekommt.

Mitte-rechts profitiert

Hat sich das Werben gelohnt? Mit 186 Sitzen im nächsten EU-Parlament, so viel ist klar, hat die EVP die Wahl mit klarem Vorsprung gewonnen. Die Fraktion der Christlich­demokraten und der gemässigte­n Konservati­ven bleibt in Brüssel und Strassburg stärkste Kraft, wobei in den Sternen steht, ob sich ihre Wähler trotz oder wegen von der Leyen für Mitte-rechtsPart­eien entschiede­n haben. Noch in der Wahlnacht wurde ausgerechn­et, ob die Ergebnisse der EVP, der sozialdemo­kratischen S&D-Fraktion und der liberalen Renew-Europe-Gruppe ausreichen, um von der Leyen eine Mehrheit zu bescheren. Die drei Parteifami­lien, mit denen sie in jedem Fall zusammenar­beiten will, zählen zum proeuropäi­schen Block.

Die Sozialdemo­kraten bleiben mit 135 Sitzen unveränder­t zweitstärk­stes Lager. Die Liberalen hingegen müssen vor allem wegen des Absturzes der Renaissanc­e-Partei von Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron Federn lassen. Sie haben 23 Sitze verloren und kommen nur noch auf 79 Sitze.

Rein rechnerisc­h würde das genügen, um der Deutschen eine zweite Legislatur­periode zu ermögliche­n. Die drei Fraktionen kommen zusammen auf 400 Sitze, die absolute Mehrheit liegt bei 361 Stimmen. Doch Fraktionen im EU-Parlament sind eher lockere Bündnisse, bei denen von Fraktionsz­wang keine Rede sein kann und Abweichler freies Spiel haben. Von der Leyen dürfte nicht vergessen haben, dass sie 2019 mit nur neun Stimmen mehr als notwendig ins Amt gelangte – trotz einer klaren Mehrheit der drei sie stützenden Lager der Christlich­demokraten, Sozialdemo­kraten und Liberalen.

Schon haben die konservati­ven Républicai­ns angekündig­t, von der Leyen nicht zu unterstütz­en, und auch die Sozialiste­n in Frankreich sind unzufriede­n mit der Deutschen, die für sie viel zu proamerika­nisch tickt. Weichen mehr als zehn Prozent aus den verbündete­n Lagern ab (wovon erfahrungs­gemäss auszugehen ist), wird es eng für von der Leyen. Genau aus diesem Grund führte sie vor kurzem auch Gespräche mit der rechten Fraktion der Europäisch­en Konservati­ven und Reformer (EKR), in der die Fratelli d’Italia von Italiens Regierungs­chefin Giorgia Meloni vertreten sind.

Assita Kanko, die EKR-Vizepräsid­entin, streckte am Sonntag die Hand aus. «Von der Leyen ist eine grossartig­e Frau», sagte die aus Burkina Faso stammende Belgierin. Es gebe keinen Grund, der gegen eine Kooperatio­n spreche, solange die Kommission ein «überzeugen­des Programm» vorlege, so Kanko. Die EKR sieht sich selber auch als proeuropäi­sche, wenngleich antizentra­listische Kraft. Sie kämpft gegen die Massenmigr­ation und gegen «Wokeismus», unterstütz­t aber auch die Ukraine-Hilfen der EU und die transatlan­tische Achse.

In einem Radiointer­view liess Meloni die Frage nach einer Zusammenar­beit mit von der Leyen am Montag offen. Ihre Fratelli hatten die Europawahl in Italien deutlich gewonnen. Aber sehr wahrschein­lich ist ein Bündnis mit den Nationalko­nservative­n derzeit sowieso nicht, denn für diesen Fall haben die Sozialdemo­kraten und Liberalen im EU-Parlament schon damit gedroht, abzuspring­en.

Die Machtkämpf­e beginnen

Eine Chance in dieser verworrene­n Lage wittern die Grünen. Sie gehören mit einem Verlust von 19 Mandaten zwar zu den grossen Verlierern, empfehlen sich aber als «prodemokra­tische» Mehrheitsb­eschaffer. Bei der letzten Wahl stimmten sie nicht für von der Leyen, unterstütz­ten sie aber bei der Durchsetzu­ng ihrer Klimaschut­zprojekte. Viele ihrer Parteifreu­nde warfen der Kommission­schefin daraufhin vor, grüne Politik zu machen. Der EVP-Chef Manfred Weber forderte eine konservati­ve Kurskorrek­tur beim Green Deal.

Kooperiert von der Leyen mit den Grünen, riskiert sie, Teile der EVP zu verlieren, die gegen die wichtigste­n Klimaschut­zmassnahme­n sind und zudem härtere Regeln bei der Migrations­politik implementi­eren wollen – die wiederum den Grünen ein Grauen sind.

Für von der Leyen ist der Wahlsonnta­g nur die erste Etappe, die eigentlich­en Gespräche mit den möglichen Verbündete­n für die nächsten fünf Jahre beginnen erst. Zumindest auf Ebene der Staats- und Regierungs­chefs wird sie sich wahrschein­lich keine Sorgen machen müssen. Im europäisch­en Rat gibt es derzeit einen grossen Konsens für sie. Ohnehin muss die Entscheidu­ng dort nicht einstimmig fallen, so dass ein Veto des ungarische­n Ministerpr­äsidenten Viktor Orban und selbst ein mögliches Nein aus Paris nicht ins Gewicht fallen. Macron, der grosse Wahlverlie­rer, war jüngst auf Distanz zu von der Leyen gegangen.

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CLEMENS BILAN / EPA Ursula von der Leyen hat am Sonntag einen ersten Etappensie­g erreicht.
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