Für von der Leyen wird es eng
Nach der Europawahl muss die EU-Kommissions-Präsidentin um ihre Wiederwahl zittern
Die politische Mitte behält die Mehrheit im Europäischen Parlament. Doch um Präsidentin der Kommission bleiben zu können, wird von der Leyen entweder auf die Grünen oder auf die Nationalkonservativen zugehen müssen. Das ist riskant.
«Wir haben die Europawahlen gewonnen. Wir sind die stärkste Partei!», rief Ursula von der Leyen am Sonntagabend ihren jubelnden Parteifreunden in einem Brüsseler Luxushotel zu. Der amtierenden Kommissionschefin stand nach einem anstrengenden WahlkampfEndspurt die Erleichterung ins Gesicht geschrieben.
Von der Leyen war jüngst in kurzer Abfolge nach Bulgarien, Schweden, Finnland, Portugal, Österreich und Deutschland gereist, um bei Veranstaltungen der Europäischen Volkspartei (EVP) noch einmal ihr Gesicht zu zeigen. Vor allem holte sich die deutsche CDU-Politikerin in den Hauptstädten den Segen für eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin ab.
Man muss sich in Erinnerung rufen, dass bei den Wahlen zum Europäischen Parlament die Bürger nur indirekt beeinflussen können, wer das wichtigste Amt der EU erhält. Von der Leyen warb bei den Wählern um Stimmen für die EVP. Aber mehr noch fühlte sie bei den Staats- und Regierungschefs vor, die sie erst nominieren müssen, bevor sie – allenfalls – von den Abgeordneten grünes Licht bekommt.
Mitte-rechts profitiert
Hat sich das Werben gelohnt? Mit 186 Sitzen im nächsten EU-Parlament, so viel ist klar, hat die EVP die Wahl mit klarem Vorsprung gewonnen. Die Fraktion der Christlichdemokraten und der gemässigten Konservativen bleibt in Brüssel und Strassburg stärkste Kraft, wobei in den Sternen steht, ob sich ihre Wähler trotz oder wegen von der Leyen für Mitte-rechtsParteien entschieden haben. Noch in der Wahlnacht wurde ausgerechnet, ob die Ergebnisse der EVP, der sozialdemokratischen S&D-Fraktion und der liberalen Renew-Europe-Gruppe ausreichen, um von der Leyen eine Mehrheit zu bescheren. Die drei Parteifamilien, mit denen sie in jedem Fall zusammenarbeiten will, zählen zum proeuropäischen Block.
Die Sozialdemokraten bleiben mit 135 Sitzen unverändert zweitstärkstes Lager. Die Liberalen hingegen müssen vor allem wegen des Absturzes der Renaissance-Partei von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Federn lassen. Sie haben 23 Sitze verloren und kommen nur noch auf 79 Sitze.
Rein rechnerisch würde das genügen, um der Deutschen eine zweite Legislaturperiode zu ermöglichen. Die drei Fraktionen kommen zusammen auf 400 Sitze, die absolute Mehrheit liegt bei 361 Stimmen. Doch Fraktionen im EU-Parlament sind eher lockere Bündnisse, bei denen von Fraktionszwang keine Rede sein kann und Abweichler freies Spiel haben. Von der Leyen dürfte nicht vergessen haben, dass sie 2019 mit nur neun Stimmen mehr als notwendig ins Amt gelangte – trotz einer klaren Mehrheit der drei sie stützenden Lager der Christlichdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen.
Schon haben die konservativen Républicains angekündigt, von der Leyen nicht zu unterstützen, und auch die Sozialisten in Frankreich sind unzufrieden mit der Deutschen, die für sie viel zu proamerikanisch tickt. Weichen mehr als zehn Prozent aus den verbündeten Lagern ab (wovon erfahrungsgemäss auszugehen ist), wird es eng für von der Leyen. Genau aus diesem Grund führte sie vor kurzem auch Gespräche mit der rechten Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), in der die Fratelli d’Italia von Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni vertreten sind.
Assita Kanko, die EKR-Vizepräsidentin, streckte am Sonntag die Hand aus. «Von der Leyen ist eine grossartige Frau», sagte die aus Burkina Faso stammende Belgierin. Es gebe keinen Grund, der gegen eine Kooperation spreche, solange die Kommission ein «überzeugendes Programm» vorlege, so Kanko. Die EKR sieht sich selber auch als proeuropäische, wenngleich antizentralistische Kraft. Sie kämpft gegen die Massenmigration und gegen «Wokeismus», unterstützt aber auch die Ukraine-Hilfen der EU und die transatlantische Achse.
In einem Radiointerview liess Meloni die Frage nach einer Zusammenarbeit mit von der Leyen am Montag offen. Ihre Fratelli hatten die Europawahl in Italien deutlich gewonnen. Aber sehr wahrscheinlich ist ein Bündnis mit den Nationalkonservativen derzeit sowieso nicht, denn für diesen Fall haben die Sozialdemokraten und Liberalen im EU-Parlament schon damit gedroht, abzuspringen.
Die Machtkämpfe beginnen
Eine Chance in dieser verworrenen Lage wittern die Grünen. Sie gehören mit einem Verlust von 19 Mandaten zwar zu den grossen Verlierern, empfehlen sich aber als «prodemokratische» Mehrheitsbeschaffer. Bei der letzten Wahl stimmten sie nicht für von der Leyen, unterstützten sie aber bei der Durchsetzung ihrer Klimaschutzprojekte. Viele ihrer Parteifreunde warfen der Kommissionschefin daraufhin vor, grüne Politik zu machen. Der EVP-Chef Manfred Weber forderte eine konservative Kurskorrektur beim Green Deal.
Kooperiert von der Leyen mit den Grünen, riskiert sie, Teile der EVP zu verlieren, die gegen die wichtigsten Klimaschutzmassnahmen sind und zudem härtere Regeln bei der Migrationspolitik implementieren wollen – die wiederum den Grünen ein Grauen sind.
Für von der Leyen ist der Wahlsonntag nur die erste Etappe, die eigentlichen Gespräche mit den möglichen Verbündeten für die nächsten fünf Jahre beginnen erst. Zumindest auf Ebene der Staats- und Regierungschefs wird sie sich wahrscheinlich keine Sorgen machen müssen. Im europäischen Rat gibt es derzeit einen grossen Konsens für sie. Ohnehin muss die Entscheidung dort nicht einstimmig fallen, so dass ein Veto des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban und selbst ein mögliches Nein aus Paris nicht ins Gewicht fallen. Macron, der grosse Wahlverlierer, war jüngst auf Distanz zu von der Leyen gegangen.