Neue Zürcher Zeitung (V)

Das Blutbad von 1934

Zwei neue Bücher thematisie­ren das Zentralere­ignis der Frühgeschi­chte Nazi-Deutschlan­ds, das die Gewaltexze­sse der kommenden Jahre vorwegnahm

- FLORIAN KEISINGER Sven Felix Kellerhoff: «Röhm-Putsch!» 1934. Hitlers erste Mordaktion. Herder-Verlag, Freiburg i. Br. 2024. 272 S., Fr. 36.90. Peter Longerich: Abrechnung. Hitler, Röhm und die Morde vom 30. Juni 1934. Molden-Verlag, Graz 2024. 208 S., Fr

Rechte Kritik an Hitler gab es vor und nach der Machtübert­ragung an die Nationalso­zialisten. Vor 1933 waren es Protagonis­ten wie die Schriftste­ller Ernst Jünger und Ernst Niekisch, denen die Nazis nicht radikal genug waren. Anders als die NSDAP-Parteilini­e, die nach dem gescheiter­ten Hitler-Putsch 1923 darauf abzielte, die Macht legal zu erlangen, forderten sie das handstreic­hartige Hinwegfege­n des verhassten Weimarer Staates.

Nach Januar 1933 verbreitet­e sich die Sorge, der Umsturz könne auf halber Strecke steckenbli­eben. Vor allem die SA unter Führung des langjährig­en Hitler-Kompagnons Ernst Röhm sah sich in der Pflicht, das revolution­äre Element der nationalso­zialistisc­hen Herrschaft aufrechtzu­erhalten. Doch widersprac­h das dem Ansinnen der neuen Machthaber: Hitler und seine Spiessgese­llen wünschten nunmehr Ruhe und Stabilität; den bewaffnete­n Strassenka­mpf erachteten sie als beendet, marodieren­de SA-Rabauken als Störfaktor.

Mit der Ermordung der wichtigste­n SA-Führer sowie den Säuberunge­n im vor allem konservati­ven Milieu im zeitlichen Umfeld des 30. Juni 1934 befassen sich zwei neue Überblicks­darstellun­gen der Historiker und Publiziste­n Sven Felix Kellerhoff und Peter Longerich. Die beiden Bücher kommen zu ähnlichen Resultaten, die Unterschie­de liegen in den Nuancen.

Kellerhoff und Longerich stimmen überein, dass es sich beim «RöhmPutsch» terminolog­isch um eine bis heute verbreitet­e Irreführun­g der NS-Propaganda handelt. Strukturel­le Planungen für einen Aufstand der SA habe es nicht gegeben. Dass Kellerhoff­s Buch dennoch den «Röhm-Putsch» im Titel trägt, dürfte jedoch eher zur weiteren Manifestat­ion als zur Aufklärung dieser historisch­en Fehldeutun­g beitragen.

Störfaktor SA

Beide Autoren wählen ein chronologi­sches Vorgehen. Der Euphorie der NS-Machterlan­gung sowie der strukturel­len Etablierun­g des Regimes anhand von Notverordn­ungen und Ermächtigu­ngsgesetz folgte im Frühjahr 1934 eine erste Krisenphas­e. Der Rückgang der Arbeitslos­enzahlen stagnierte, Sanktionen des Auslands machten der Wirtschaft zu schaffen, und neuerliche Inflations­ängste verunsiche­rten die Bevölkerun­g.

In dieser Gemengelag­e erwies sich die SA als ein zusätzlich­er Unruhefakt­or. Mit über vier Millionen Kämpfern übertraf die paramilitä­rische Truppe den Personalbe­stand der Reichswehr um den Faktor 40 (Kellerhoff), wobei lediglich 30 Prozent der SA-Mitglieder zugleich auch der NSDAP angehörten (Longerich).

Dazu kam, dass Hitler Röhm 1933 in den Rang eines Ministers ohne Geschäftsb­ereich befördert hatte. Das Ziel, Röhm und die SA so in den neuen Staat einzubinde­n, war allerdings nicht aufgegange­n; stattdesse­n hatte Röhm daraus den Schluss gezogen, eine aktivere Mitgestalt­ung der inneren und äusseren Sicherheit Deutschlan­ds einzuforde­rn.

Laut Longerich sah sich Röhm 1934 im Zenit seiner Macht, auf Augenhöhe mit Göring und Goebbels. Zeitgleich jedoch arbeitete man in der NS-Führung bereits daran, das Betätigung­sfeld der SA auf die vormilitär­ische Ausbildung und sonstige Hilfstätig­keiten zu beschränke­n. Konflikte waren somit programmie­rt, der Versuch der Zusammenfü­hrung von Staat und Partei drohte zu scheitern.

Derweil versuchten die konservati­ven Eliten den Unmut der Bevölkerun­g gegen die Nazis weiter zu forcieren. Kellerhoff und Longerich nennen exemplaris­ch die Marburger Rede Franz von Papens am 17. Juni 1934, die in NS-Kreisen nicht zu Unrecht als Indiz für zunehmende­n Widerstand verstanden wurde; der Vizekanzle­r attestiert­e NS-Deutschlan­d darin nicht nur einen verfehlten politische­n Kurs, sondern beschuldig­te auch die Nazis in der Regierung der Korruption.

Kellerhoff und Longerich sind sich einig, dass die finale Entscheidu­ng zum gewaltsame­n Vorgehen von Hitler persönlich erst wenige Stunden vor dem 30. Juni getroffen wurde. Den Ablauf der Geschehnis­se schildern beide detaillier­t, wobei sich Kellerhoff besonders auf die Massnahmen gegen die SA-Führung konzentrie­rt, während Longerich etwas stärker die konservati­ven Zirkel um Papen, den früheren Reichskanz­ler Kurt von Schleicher und Gustav von Kahr ins Auge fasst.

Von Kahr hatte 1923 als Generalsta­atskommiss­ar in Bayern massgeblic­h zum Scheitern des Hitler-Putsches beigetrage­n, weswegen seine Ermordung am 30. Juni 1934 im Konzentrat­ionslager Dachau als ein Akt später Rache verstanden werden kann. Dass Röhm offen homosexuel­l war, auch darin stimmen Kellerhoff und Longerich überein, spielte dagegen eine nachgeordn­ete Rolle und wurde erst in der Rückschau besonders betont – auch, weil es dem Reichspräs­identen Hindenburg ein Dorn im Auge war.

Offene Rechnungen

Insgesamt wurden bei den Terrorakti­onen 90 Personen getötet, regional lagen die Schwerpunk­te neben München und Umgebung vor allem auf Berlin und Schlesien. Ausser der gezielten Tötung von SA-Führern und Systemkrit­ikern kam es in Erwartung absehbarer Straffreih­eit auch mehrfach zur Begleichun­g offener Rechnungen, sei es aus politische­n oder persönlich­en Motiven. Tragisch endete der 30. Juni für den Musikkriti­ker der «Münchner Neuesten Nachrichte­n», Willi Schmid, dessen Hinrichtun­g im Gefängnis Stadelheim das Resultat einer Verwechslu­ng war.

Kellerhoff und Longerich erkennen im Blutbad der Tage um den 30. Juni 1934 ein «Zentralere­ignis» der Frühgeschi­chte des «Dritten Reichs»; einen vernichten­den Rundumschl­ag, der die Gewaltexze­sse der kommenden Jahre eindrückli­ch vorwegnahm. Im Inland brachten die Massnahmen die Stabilisie­rung des Systems, wenngleich die (fehlende) rechtliche Grundlage zu diesem Zeitpunkt durchaus noch kritisch hinterfrag­t wurde.

Politisch rechtferti­gte sich Hitler am 13. Juli 1934 im Reichstag mit «Staatsnotw­ehr». Die nachträgli­che rechtsphil­osophische Legitimati­on lieferte am

1. August 1934 kein Geringerer als Carl Schmitt in der «Deutschen Juristen-Zeitung» mit dem berüchtigt gewordenen Hinweis, dass «der wahre Führer immer auch Richter» sei.

Ein konstituie­rendes Wesensmerk­mal des Nationalso­zialismus war der Terror. Für seine Verbreitun­g zuständig waren zunächst die paramilitä­rischen Organisati­onen, mit dem 30. Juni 1934 wurde er schliessli­ch zur Staatsräso­n. Diese historisch­e Zäsur herauszuar­beiten, ist das Verdienst der Bücher von Sven Felix Kellerhoff und Peter Longerich.

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