Neue Zürcher Zeitung (V)

Die Frage nach der Systemrele­vanz

-

«Stahl Gerlafinge­n ist nicht systemrele­vant»: Mit diesem für Industriea­ngestellte niederschm­etternden Titel beginnt ein lesenswert­er Artikel von Dominik Feldges (NZZ 23. 5. 24). Er zeigt das Spannungsf­eld zwischen der Wirtschaft­stheorie und der Realität. Ganz offenbar haben wir in der Schweiz nicht nur einen Röstigrabe­n, sondern auch einen Industrieg­raben.

Wie sonst könnte man erklären, dass sich die Schweizer Politik, der Bundesrat und die Journalist­en nun erdreisten, über einzelne Industrieb­etriebe der Schweiz und deren Systemrele­vanz zu richten? Wie kann es sein, dass unser Wirtschaft­sminister Parmelin sich über die Existenzbe­rechtigung von Vetropack und Stahl Gerlafinge­n auslässt?

Der absolut grösste Teil der Schweizer Industrief­irmen steht seit Jahrzehnte­n im vollen Wind des internatio­nalen Wettbewerb­s. Seit der Einführung des Euro im Jahr 1999 hat sich dieser um rund 40 Prozent entwertet. Beim Dollar sieht es nicht besser aus. Das schmerzt nicht nur die Exporteure, die entspreche­nde Umsatz- und Margenverl­uste zu verkraften haben, nein, es betrifft auch die Binnenwirt­schaft. Im gleichen Umfang wurde die Wettbewerb­sfähigkeit der ausländisc­hen Konkurrenz beim Import gestärkt. Nicht, dass diese Firmen innovative­r oder produktive­r arbeiten würden als die Schweizer Industriea­ngestellte­n, sie wurden mit den Veränderun­gen der Devisenmär­kte in eine Leistungsf­ähigkeit «gedopt», die wettbewerb­sverzerren­d ist.

Wollen wir wichtige Industrieu­nternehmen mit wehenden Fahnen untergehen lassen? In Deutschlan­d wird über die drohende Deindustri­alisierung geklagt. In der Schweiz ist diese schon längst Realität. Früher konnte man mit dem Argument, dass die in der Industrie verlorenen Arbeitsplä­tze leicht im tertiären Bereich kompensier­t werden können, punkten. Mit der nun aufkommend­en KI werden aber genau in diesem Bereich viele Arbeitsplä­tze infrage gestellt.

Wir sollten darum diese Unternehme­n und ihre Angestellt­en nicht geringschä­tzen. Hier wird echte Wertschöpf­ung betrieben, hier werden die Güter des täglichen Bedarfs erzeugt.

Beat M. Schelling, Oberengstr­ingen

Newspapers in German

Newspapers from Switzerland