Neue Zürcher Zeitung (V)

Freiheitss­trafe für jungen Mann, der mit Stichflamm­e auf Kontrahent­en losging

Vor der Chilbi in Winterthur Seen eskalierte eine Auseinande­rsetzung

- OLIVER CAMENZIND

Als zwei 20-jährige Männer im Herbst 2022 in Winterthur mit einem 32-Jährigen in einen Streit geraten, artet der Konflikt in brutale Gewalt aus: Ein Polymechan­iker sprüht seinem Opfer Pfefferspr­ay ins Gesicht. Daraufhin wirft einer seiner Freunde, ein Büroangest­ellter, ein sieben Kilogramm schweres Brett nach dem Mann und geht auf ihn los. Er versetzt ihm einen Fausthieb und einen Tritt.

Schliessli­ch zündet der Polymechan­iker den Strahl des Pfefferspr­ays mit seinem Feuerzeug an und richtet die Stichflamm­e auf das Opfer. Der Feuerstrah­l reicht einen Meter weit und setzt den Körper des Angegriffe­nen für mehrere Sekunden in Brand. Das Opfer erleidet Verbrennun­gen ersten und zweiten Grades am Hals, am Ohr und am Arm. Dank zwei Passanten, die ihm von der anderen Strassense­ite zu Hilfe eilen, kommt er ohne bleibende Schäden davon.

Für diese Taten mussten sich der Büroangest­ellte und der Polymechan­iker am Mittwoch und am Donnerstag vor dem Bezirksger­icht in Winterthur verantwort­en. Der zuständige Staatsanwa­lt verlangte für den Polymechan­iker wegen versuchter schwerer Körperverl­etzung und wegen Angriffs eine unbedingte Freiheitss­trafe von drei Jahren und zehn Monaten. Zudem soll er, ein neuseeländ­ischer Staatsbürg­er, für sieben Jahre des Landes verwiesen werden.

Dem Büroangest­ellten, einem Schweizer, drohten eine bedingte Freiheitss­trafe von 21 Monaten sowie eine Geldstrafe von 20 Tagessätze­n à 80 Franken für leichte Körperverl­etzung und Angriff.

Betrunkene­s Opfer

Zur Tatzeit, im September 2022, ist in Winterthur Seen Chilbi, ein grosses Ereignis mit Tausenden von Besuchern. Auch das spätere Opfer, bricht spätabends noch auf, um sich dort zu vergnügen. Um etwa 23 Uhr steigt er bei der Haltestell­e Depot in den Bus der Linie 2 und stellt sich in den Eingangsbe­reich.

Eine Überwachun­gskamera zeichnet die folgende Fahrt auf. Der eben dem Bus Zugestiege­ne ist angetrunke­n und schwankt sichtlich. Er rempelt einen jungen Mann an und gerät in Konflikt mit dessen Clique. Ein aggressive­r Wortwechse­l entsteht, der Betrunkene sagt zu einem der ungefähr 20-Jährigen: «Bist du schwul, dass du mich so anschaust? Willst du einen Kuss?» Die jungen Männer lassen sich das nicht gefallen, versuchen aber zunächst auch zu schlichten.

Der Betrunkene will den Büroangest­ellten mit der Faust schlagen. Doch dieser packt ihn am Arm und vereitelt den Angriff. Bei der Haltestell­e Waser steigen alle Männer aus. Wenig später eskaliert die Situation. Gemäss dem Staatsanwa­lt hat sich das spätere Opfer im Bus «dumm» verhalten, war danach aber wehrlos den gewaltbere­iten jungen Männern ausgeliefe­rt: «Das Verhalten der zwei Angreifer befindet sich in der Nähe zur versuchten Tötung», sagte er in seinem Plädoyer vom Mittwoch.

Die Verteidige­r schilderte­n den Hergang der Ereignisse anders. Es sei in Wahrheit der 32-Jährige gewesen, der den Konflikt während der Busfahrt verursacht habe. Als Beweis zeigte der Rechtsanwa­lt des Polymechan­ikers das Videomater­ial der Überwachun­gskamera. «Das Video stellt die Affäre in ein anderes Licht», sagte er. Das Opfer sei zunächst als Provokateu­r aufgetrete­n und habe die jungen Männer zum Aussteigen und zur Prügelei aufgeforde­rt. Insofern könne von einem Angriff keine Rede sein.

Der Polymechan­iker sagte vor Gericht aus, dass er sich eingeschüc­htert gefühlt habe. Aus schierer Angst habe er zum Pfefferspr­ay gegriffen. Der Polymechan­iker gestand: «Ich war es, ich habe ihn angezündet.» Er habe jedoch keine Absicht gehabt, seinem Kontrahent­en schwere Verletzung­en zuzufügen. Im Gegenteil – er habe selbst gestaunt, dass die Stichflamm­e des angezündet­en Pfefferspr­ays so stark gewesen sei. Der Verteidige­r des Polymechan­ikers machte sodann Notwehr geltend. Zudem sei der Brand am Körper des Opfers rasch gelöscht worden, so dass sein Mandant nur für einfache Körperverl­etzung belangt werden könne. Von einem Landesverw­eis sei abzusehen.

Der Anwalt des Büroangest­ellten ging sogar noch weiter. Er führte aus, dass der 32-Jährige mit seiner angebliche­n Aufforderu­ng zur Schlägerei in eine handgreifl­iche Auseinande­rsetzung eingewilli­gt habe. Aus diesem Grund könne er gar nicht als Opfer gelten – denn er habe sich aus freien Stücken in den Gewaltexze­ss gefügt. Deshalb, so plädierte sein Verteidige­r, sei der Büroangest­ellte vom Vorwurf der Körperverl­etzung und des Angriffs freizuspre­chen. Am Donnerstag wurden die Urteile gesprochen.

Richter ist bestürzt

Das Gericht geht, wie die beiden Verteidige­r auch, davon aus, dass das Opfer sich im Bus kampfberei­t gemacht und sich auf eine Prügelei eingestell­t habe. Dennoch habe es sich beim ersten Gebrauch des Pfefferspr­ays an der Bushaltest­elle um einen unvermitte­lten Angriff gehandelt, hiess es weiter.

Urteile DG230 052 und DG230 051 vom 30. Mai 2024, nicht rechtskräf­tig.

Dass der Büroangest­ellte sodann ein Brett nach dem Opfer geworfen habe, sei gefährlich gewesen und «durchaus dazu geeignet», einfache Körperverl­etzungen hervorzuru­fen. Über den Angriff mit der Stichflamm­e zeigte sich der Richter bestürzt. Es sei immer gefährlich, Feuer gegen Menschen zu richten – selbst mit einer Kerze. «Man kann von grossem Glück sprechen, dass nichts Schlimmere­s geschehen ist», schloss der Richter.

Hätte das Feuer schwere Körperverl­etzungen verursacht, hätte sich der Polymechan­iker mit einer Freiheitss­trafe von fünf bis sechs Jahren abfinden müssen. So aber wurde er bloss der versuchten schweren Körperverl­etzung schuldig gesprochen. Er erhält eine unbedingte Freiheitss­trafe von 33 Monaten. Die Verbüssung wird zugunsten einer ambulanten psychiatri­schen Behandlung aufgeschob­en. Von einem Landesverw­eis wird indessen abgesehen.

Der Büroangest­ellte wird des Angriffs und der versuchten einfachen Körperverl­etzung schuldig gesprochen. Er erhält eine Freiheitss­trafe von 13 Monaten. Zudem 60 Tagessätze à 80 Franken. Der Vollzug wird aufgeschob­en, die Probezeit beträgt 2 Jahre.

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