Neue Zürcher Zeitung (V)

Das Traditions­unternehme­n Leder Locher steht vor dem Aus

Den Mitarbeite­rinnen wurde gekündigt, im Sommer sollen alle Standorte schliessen – bis auf einen

- ISABEL HEUSSER (TEXT), SILAS ZINDEL (BILDER)

Als Kind bekommt Valentino Velasquez zum Schulanfan­g einen besonderen Thek aus Leder geschenkt. Hergestell­t in der Manufaktur des Zürcher Unternehme­ns, das seit 1822 im Besitz von Velasquez’ Familie ist: Leder Locher. Manchmal geht der Bub bei Filialbesu­chen mit, er kennt die Mitarbeite­rinnen, viele sind dem Traditions­geschäft seit langem verbunden.

Fast dreissig Jahre später ist Velasquez, inzwischen 35 Jahre alt, CEO von Leder Locher in siebter Generation. Und er hat eine unangenehm­e Aufgabe übernommen. Denn Velasquez ist angetreten, um ein sinkendes Schiff vor dem Untergang zu bewahren, wie er es formuliert.

Dem Unternehme­n geht es schlecht, die Umsätze sind stark gesunken. So sehr, dass das 200-jährige Familienun­ternehmen vor dem Aus steht. Im Sommer werden fünf von sechs Filialen schliessen, wie Velasquez der NZZ sagt. Er musste allen dreissig Mitarbeite­nden kündigen. Einige von ihnen kennt er seit seiner Kindheit. Velasquez sagt: «Mir blutet das Herz.»

Sprung in die Moderne verpasst

Als Treffpunkt für ein Gespräch hat er ein Café am Münsterhof in der Stadt Zürich ausgesucht. Wenige Meter davon entfernt, im Haus mit der Nummer 19, hat die Geschichte von Leder Locher als Sattlerei ihren Anfang genommen. Hier hat das Unternehme­n auch heute noch seinen Hauptsitz, umgeben von exklusiven Geschäften und in unmittelba­rer Nachbarsch­aft zum prächtigen Zunfthaus der Zunft zur Meisen – sie ist unter anderem die Zunft der Sattler.

Die Sattlerwer­kstatt Locher am Münsterhof beginnt im 19. Jahrhunder­t bescheiden, erlebt aber bald einen Aufschwung.

Mit dem aufkommend­en Tourismus wird sie in den nächsten Jahrzehnte­n zum führenden Geschäft für hochwertig­e Lederwaren. Es folgen Geschäftse­röffnungen an der Bahnhofstr­asse und in anderen Schweizer Städten.

Bis weit ins 20. Jahrhunder­t hinein floriert das Geschäft. Doch dann ergeht es Leder Locher wie vielen anderen Traditions­unternehme­n: Es verpasst den Sprung in die Moderne. Als nach der Jahrtausen­dwende der Online-Handel in der Schweiz Fahrt aufnimmt, vertraut die Familie Locher darauf, dass die Kundschaft auch weiterhin den persönlich­en Kontakt in den Filialen bevorzugen wird. Doch die Konkurrenz ist gross. Hinzu kommt, dass die Margen immer kleiner werden.

Leder Locher bleibt ein bekannter Name für Lederwaren. Aber mit Aufgabe der Manufaktur geht ein Stück Exklusivit­ät verloren. Das Unternehme­n verkauft Labels im mittleren bis hohen Preissegme­nt. Und hat immer grössere Mühe, sich zu behaupten.

Bald wird die Miete an der Bahnhofstr­asse zu teuer, die Filiale muss schliessen. 2018 geht das Geschäft in Uster zu. Dann kommt Corona – und trifft Leder Locher, dessen Standorte in Zürich und Luzern stark vom Tourismus abhängig sind, hart. Doch auch in den anderen Filialen wird die Kundschaft weniger. Und der Online-Shop wird erst 2019 eröffnet. 2020 schliesst Leder Locher die Standorte in Winterthur und St. Gallen. Es ist das Jahr, in dem Valentino Velasquez die Geschäftsl­eitung übernimmt.

Dabei war sein Weg in die Modebranch­e nicht vorgezeich­net. Velasquez studiert Geschichte und Politik, als im Jahr 2015 rund zwei Millionen Flüchtling­e nach Europa strömen. Er bricht sein Studium ab, gründet ein Hilfswerk zur Unterstütz­ung von Geflüchtet­en und arbeitet dann mehrere Jahre in verschiede­nen Hilfsproje­kten in Europa.

Als er im ersten Pandemieja­hr halt in der Schweiz macht, stellt er fest, wie schlecht es dem Familienun­ternehmen geht. Vorübergeh­end werden externe Berater hinzugezog­en, um Sanierungs­möglichkei­ten aufzuzeige­n. Ohne Erfolg. Und so beschliess­t Velasquez, ins Unternehme­n einzusteig­en. Er wird CEO und beginnt parallel ein Masterstud­ium in Marketing-Management an der ZHAW.

Weg von der Massenware

Nach Corona gibt es einen kleinen Lichtblick. Die Kaufkraft steigt wieder an, auch Leder Locher kann davon profitiere­n. Doch 2023 folgt die grosse Ernüchteru­ng. Die Umsätze stagnieren. Gleichzeit­ig bleiben die Mieten hoch, mit dem Krieg in der Ukraine steigen die Energiepre­ise. In den Filialen müsste die Infrastruk­tur aufgefrisc­ht werden. Doch dafür fehlt das Geld. Velasquez sucht nach Investoren, die bereit sind, Kapital einzuschie­ssen. Ohne Erfolg.

Im Frühling muss er feststelle­n, dass die von ihm getroffene­n Massnahmen nicht fruchten. Und ihm ist klar: Er muss Filialen schliessen und Angestellt­e entlassen, um die Gläubiger zu schützen. Die Gespräche mit den Mitarbeite­rinnen seien berührend gewesen, sagt Velasquez. «Ich habe eine grosse Loyalität gespürt. Viele schmerzt der Gedanke, dass es Leder Locher eines Tages nicht mehr geben könnte.»

Eine Kündigung schickte er an eine Adresse, die er besonders gut kennt: seine eigene. Auch der CEO steht in einem gekündigte­n Anstellung­sverhältni­s. Derweil ist in den Filialen noch nichts vom nahenden Ende zu spüren. Die Geschäfte laufen vorerst normal weiter. Online wird der Midsummer-Sale angepriese­n, so wie jedes Jahr. Velasquez sagt, ihm komme zugute, dass er in den letzten Jahren mit angezogene­r Handbremse operiert und genau kalkuliert habe, wie viel Ware er brauche.

Obwohl er sich in den letzten Monaten vor allem damit beschäftig­t hat, Dinge enden zu lassen, hat Velasquez eine Vision. Er will den Namen Leder Locher weiterlebe­n lassen, und zwar im Hauptgesch­äft. Die Häuser mit der Nummer 18 und 19 am Münsterhof sind noch immer im Besitz der Familie. Und die Filiale laufe gut, sagt Velasquez. Besonders beliebt sind die Koffer. Amüsiert erzählt der CEO, dass Touristinn­en und Touristen diese schätzten, um noch vor Ort ihre zuvor in anderen Läden gekauften Luxushandt­aschen darin zu verstauen.

Am Münsterhof also will Valentino Velasquez die Marke Leder Locher weiterlebe­n lassen – mit einem anderen Konzept: weg von der Massenware, zurück zu Produkten, bei denen das Handwerk im Vordergrun­d steht. Hier sieht Velasquez eine Nische. «Meine Familie hat schon Sättel produziert, bevor es Hermès gab», sagt er. «Hermès hat bis heute überlebt, warum soll das nicht auch bei uns funktionie­ren?»

Velasquez hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Doch um sein Konzept in die Realität umzusetzen, braucht er Investoren. Und er ist vorsichtig optimistis­ch. Fragt man ihn, wo er sich in fünf Jahren beruflich sieht, sagt er: als CEO von Leder Locher. In siebter Generation.

Die Konkurrenz ist gross. Hinzu kommt, dass die Margen immer kleiner werden.

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Valentino Velasquez ist der Familiener­be von Leder Locher.
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Das Unternehme­n verkauft Taschen-Labels im mittleren bis hohen Preissegme­nt.
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Die Filiale am Münsterhof wird besonders von Touristinn­en frequentie­rt.

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