Das Traditionsunternehmen Leder Locher steht vor dem Aus
Den Mitarbeiterinnen wurde gekündigt, im Sommer sollen alle Standorte schliessen – bis auf einen
Als Kind bekommt Valentino Velasquez zum Schulanfang einen besonderen Thek aus Leder geschenkt. Hergestellt in der Manufaktur des Zürcher Unternehmens, das seit 1822 im Besitz von Velasquez’ Familie ist: Leder Locher. Manchmal geht der Bub bei Filialbesuchen mit, er kennt die Mitarbeiterinnen, viele sind dem Traditionsgeschäft seit langem verbunden.
Fast dreissig Jahre später ist Velasquez, inzwischen 35 Jahre alt, CEO von Leder Locher in siebter Generation. Und er hat eine unangenehme Aufgabe übernommen. Denn Velasquez ist angetreten, um ein sinkendes Schiff vor dem Untergang zu bewahren, wie er es formuliert.
Dem Unternehmen geht es schlecht, die Umsätze sind stark gesunken. So sehr, dass das 200-jährige Familienunternehmen vor dem Aus steht. Im Sommer werden fünf von sechs Filialen schliessen, wie Velasquez der NZZ sagt. Er musste allen dreissig Mitarbeitenden kündigen. Einige von ihnen kennt er seit seiner Kindheit. Velasquez sagt: «Mir blutet das Herz.»
Sprung in die Moderne verpasst
Als Treffpunkt für ein Gespräch hat er ein Café am Münsterhof in der Stadt Zürich ausgesucht. Wenige Meter davon entfernt, im Haus mit der Nummer 19, hat die Geschichte von Leder Locher als Sattlerei ihren Anfang genommen. Hier hat das Unternehmen auch heute noch seinen Hauptsitz, umgeben von exklusiven Geschäften und in unmittelbarer Nachbarschaft zum prächtigen Zunfthaus der Zunft zur Meisen – sie ist unter anderem die Zunft der Sattler.
Die Sattlerwerkstatt Locher am Münsterhof beginnt im 19. Jahrhundert bescheiden, erlebt aber bald einen Aufschwung.
Mit dem aufkommenden Tourismus wird sie in den nächsten Jahrzehnten zum führenden Geschäft für hochwertige Lederwaren. Es folgen Geschäftseröffnungen an der Bahnhofstrasse und in anderen Schweizer Städten.
Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein floriert das Geschäft. Doch dann ergeht es Leder Locher wie vielen anderen Traditionsunternehmen: Es verpasst den Sprung in die Moderne. Als nach der Jahrtausendwende der Online-Handel in der Schweiz Fahrt aufnimmt, vertraut die Familie Locher darauf, dass die Kundschaft auch weiterhin den persönlichen Kontakt in den Filialen bevorzugen wird. Doch die Konkurrenz ist gross. Hinzu kommt, dass die Margen immer kleiner werden.
Leder Locher bleibt ein bekannter Name für Lederwaren. Aber mit Aufgabe der Manufaktur geht ein Stück Exklusivität verloren. Das Unternehmen verkauft Labels im mittleren bis hohen Preissegment. Und hat immer grössere Mühe, sich zu behaupten.
Bald wird die Miete an der Bahnhofstrasse zu teuer, die Filiale muss schliessen. 2018 geht das Geschäft in Uster zu. Dann kommt Corona – und trifft Leder Locher, dessen Standorte in Zürich und Luzern stark vom Tourismus abhängig sind, hart. Doch auch in den anderen Filialen wird die Kundschaft weniger. Und der Online-Shop wird erst 2019 eröffnet. 2020 schliesst Leder Locher die Standorte in Winterthur und St. Gallen. Es ist das Jahr, in dem Valentino Velasquez die Geschäftsleitung übernimmt.
Dabei war sein Weg in die Modebranche nicht vorgezeichnet. Velasquez studiert Geschichte und Politik, als im Jahr 2015 rund zwei Millionen Flüchtlinge nach Europa strömen. Er bricht sein Studium ab, gründet ein Hilfswerk zur Unterstützung von Geflüchteten und arbeitet dann mehrere Jahre in verschiedenen Hilfsprojekten in Europa.
Als er im ersten Pandemiejahr halt in der Schweiz macht, stellt er fest, wie schlecht es dem Familienunternehmen geht. Vorübergehend werden externe Berater hinzugezogen, um Sanierungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Ohne Erfolg. Und so beschliesst Velasquez, ins Unternehmen einzusteigen. Er wird CEO und beginnt parallel ein Masterstudium in Marketing-Management an der ZHAW.
Weg von der Massenware
Nach Corona gibt es einen kleinen Lichtblick. Die Kaufkraft steigt wieder an, auch Leder Locher kann davon profitieren. Doch 2023 folgt die grosse Ernüchterung. Die Umsätze stagnieren. Gleichzeitig bleiben die Mieten hoch, mit dem Krieg in der Ukraine steigen die Energiepreise. In den Filialen müsste die Infrastruktur aufgefrischt werden. Doch dafür fehlt das Geld. Velasquez sucht nach Investoren, die bereit sind, Kapital einzuschiessen. Ohne Erfolg.
Im Frühling muss er feststellen, dass die von ihm getroffenen Massnahmen nicht fruchten. Und ihm ist klar: Er muss Filialen schliessen und Angestellte entlassen, um die Gläubiger zu schützen. Die Gespräche mit den Mitarbeiterinnen seien berührend gewesen, sagt Velasquez. «Ich habe eine grosse Loyalität gespürt. Viele schmerzt der Gedanke, dass es Leder Locher eines Tages nicht mehr geben könnte.»
Eine Kündigung schickte er an eine Adresse, die er besonders gut kennt: seine eigene. Auch der CEO steht in einem gekündigten Anstellungsverhältnis. Derweil ist in den Filialen noch nichts vom nahenden Ende zu spüren. Die Geschäfte laufen vorerst normal weiter. Online wird der Midsummer-Sale angepriesen, so wie jedes Jahr. Velasquez sagt, ihm komme zugute, dass er in den letzten Jahren mit angezogener Handbremse operiert und genau kalkuliert habe, wie viel Ware er brauche.
Obwohl er sich in den letzten Monaten vor allem damit beschäftigt hat, Dinge enden zu lassen, hat Velasquez eine Vision. Er will den Namen Leder Locher weiterleben lassen, und zwar im Hauptgeschäft. Die Häuser mit der Nummer 18 und 19 am Münsterhof sind noch immer im Besitz der Familie. Und die Filiale laufe gut, sagt Velasquez. Besonders beliebt sind die Koffer. Amüsiert erzählt der CEO, dass Touristinnen und Touristen diese schätzten, um noch vor Ort ihre zuvor in anderen Läden gekauften Luxushandtaschen darin zu verstauen.
Am Münsterhof also will Valentino Velasquez die Marke Leder Locher weiterleben lassen – mit einem anderen Konzept: weg von der Massenware, zurück zu Produkten, bei denen das Handwerk im Vordergrund steht. Hier sieht Velasquez eine Nische. «Meine Familie hat schon Sättel produziert, bevor es Hermès gab», sagt er. «Hermès hat bis heute überlebt, warum soll das nicht auch bei uns funktionieren?»
Velasquez hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Doch um sein Konzept in die Realität umzusetzen, braucht er Investoren. Und er ist vorsichtig optimistisch. Fragt man ihn, wo er sich in fünf Jahren beruflich sieht, sagt er: als CEO von Leder Locher. In siebter Generation.
Die Konkurrenz ist gross. Hinzu kommt, dass die Margen immer kleiner werden.