«Unser Spitalwesen scheint immer noch im Geld zu schwimmen»
Der Gesundheitsökonom Tilman Slembeck von der ZHAW Winterthur sieht die Lösung für das Schweizer Gesundheitswesen in Versorgungsnetzen. Ihr einziges Interesse wäre, möglichst gesunde Patienten zu haben, sagt er im Gespräch mit Erich Aschwanden
Herr Slembeck, Sie wohnen in Abtwil im Kanton St. Gallen.Wie viele Spitäler gibt es im Umkreis von fünfzig Kilometern?
Es gibt zehn Spitäler. Davon sind vier Kantonsspitäler. Hinzu kommen sechs Kliniken, die teilweise von privaten Unternehmen betrieben werden.
Was sagt uns das über das Schweizer Gesundheitswesen?
Die Schweiz legt seit langem grossen Wert auf eine gute Gesundheitsversorgung. Als Faustregel galt früher einmal, dass man mit dem Ross spätestens nach zwei Stunden in der nächsten medizinischen Versorgungsstation war.
Inzwischen leben wir in Zeiten des Krankenwagens und des Helikopters.
Die Erkenntnis, dass man die Notfallversorgung von den sogenannten planbaren Eingriffen trennen muss, hat sich tatsächlich immer noch nicht durchgesetzt. Ich verstehe nicht, warum die Patienten nicht bereit sind, eine Stunde Fahrzeit zu jener Klinik in Kauf zu nehmen, wo sie beispielsweise die beste Hüftoperation bekommen.
Die Kantone fördern mit ihrer Spitalplanung diese Anspruchshaltung noch.
In der ganzen Schweiz wird traditionell Kirchturmpolitik betrieben. Wer als Regionalpolitiker nur für das Spital in seinem Wahlkreis schaut, verwechselt die Krampfadern mit Notfällen. Was die Bevölkerung nahe vom Wohnort braucht, ist eine gute Rettung und Notfallversorgung.
Was müsste die Politik stattdessen machen?
Die Kantone und Gemeinden sollten in gut ausgebaute Permanencen und Notfallstationen investieren. Es ist Aufgabe der Politik und der Ärzteschaft, der Bevölkerung zu erklären, dass den Bürgern eine exzellente Notfallversorgung mehr nützt als ein wohnortnahes Spital, das vieles kann, wo aber die Qualität aufgrund tiefer Fallzahlen geringer ist.
Aber viele Gemeinden wollen ihr Spital trotz allem behalten.
Das können sie gerne machen, doch dann sollen sie auch die Verantwortung und die Finanzierung übernehmen. Die Gemeinden oder die Regionen, die davon profitieren, sollen festlegen, wie das Leistungsangebot das regionalen Spitals aussehen soll, und dafür aufkommen. Im Gegensatz zu heute wäre damit das Äquivalenzprinzip gewährleistet. Die Versorgung ist nämlich nur dann optimal, wenn Nutzer, Entscheider und Zahler einer Einrichtung dieselben sind. Die organisatorische und finanzielle Verselbständigung von Regionalspitälern würde also helfen, deren Angebot zu optimieren und Redundanzen zu vermeiden, ohne dass der ganze Kanton wie heute für die Defizite aus dem Überangebot geradestehen muss.
Führt das nicht zu Steuererhöhungen?
Das kann Steuererhöhungen bedeuten, muss es aber nicht, wenn aus Neuorganisation, Zusammenlegung oder allenfalls auch Schliessungen Effizienzgewinne resultieren.
Dann ist also noch zu viel Geld im System.
Unser Spitalwesen scheint immer noch im Geld zu schwimmen, wenn man auf die Politik schaut. Zwar haben immer mehr Spitäler finanzielle Probleme im operativen Geschäft und können die Reinvestitionen nicht aus eigener Kraft stemmen. Gleichzeitig wollen Universitätsspitäler wie etwa Zürich und Basel aber Milliarden für Neubauten ausgeben oder tun dies bereits.
Warum ist das so?
Man hat den Eindruck, dass es dabei oft mehr um kantonales Prestige als um Notwendigkeiten der Gesundheitsversorgung geht. Doch Investitionen in Beton lassen sich für die Politik besser verkaufen als die Förderung von integrierten Versorgungsnetzen, Digitalisierung oder dem Einsatz von künstlicher Intelligenz. Aber das ist nicht das Schlimmste.
Was denn?
Der Bau ist schon teuer genug, aber das wirklich Teure ist der Betrieb.All die topmodernen Einrichtungen, die man jetzt hochzieht, werden oft nur bis an die Kantonsgrenze geplant und müssen dann über Jahrzehnte ausgelastet werden.
Was ist die Lösung?
Ich plädiere für eine liberale Lösung, welche auf mehr Wettbewerb setzt und die Rolle der Kantone, gerade in der Spitalplanung, reduziert. Die Kantone haben heute als Spitaleigner, Finanzierer, Aufsicht, Schiedsstelle und eben auch Planer zu viele widersprüchliche Rollen.
Wie soll das konkret aussehen?
Mein Vorschlag umfasst drei wesentliche Elemente. Die in staatlichem Besitz befindlichen Spitäler, Kliniken und so weiter sind weitgehend zu verselbständigen, um ihnen mehr Autonomie zu geben. Sodann sind grosse Versorgungsregionen zu definieren, innerhalb deren verschiedene integrierte Versorgungsnetze zueinander im Wettbewerb stehen und jeweils alle Leistungen der Grundversicherung aus einer Hand anbieten. Die Leistungen der Spitäler und Kliniken werden über Verträge in die Versorgungsnetze integriert. Spitäler können auch selbst ein Versorgungsnetz aufbauen.
Wie viele Spitalregionen wären sinnvoll?
In der ganzen Schweiz sollen etwa fünf bis sechs vollständig integrierte Versorgungsregionen mit jeweils mindestens einer Million Einwohner gebildet werden. Das Tessin würde aufgrund der Sprache eine eigene Region bilden.
Was heisst das?
Vollständig integrierte Versorgungsnetze bieten ihren Mitgliedern alle Leistungen der Grundversicherung an, indem sie diese entweder selbst erbringen oder über Verträge mit allen nötigen Leistungserbringern zukaufen, zum Beispiel mit Unispitälern. Die heutigen Versicherten werden also zu Mitgliedern und bezahlen dafür eine Kopfprämie, mit der das Netzwerk auskommen muss. Damit trägt dieses auch Kostenverantwortung, was bis anhin nicht der Fall ist.
Das klingt sehr abstrakt. Welche Vorteile hat der einzelne Patient konkret davon?
Das Netzwerk kennt seine Mitglieder und weiss, woher sie ihre Leistungen beziehen. Hier können Doppelspurigkeiten vermieden werden.
Senken solche Netzwerke die Kosten?
Ja, wenn sie mit einer Kostenobergrenze pro Mitglied auskommen müssen. Das verhindert, dass sie mehr verdienen, wenn sie mehr Leistungen erbringen. Die Anreize werden umgekehrt. Je gesünder die Mitglieder sind, umso mehr verdient das Netzwerk. Ausserdem müssen die Netzwerke untereinander im Wettbewerb stehen.
Kann es nicht sein, dass ein Netzwerk teure Patienten gezielt loswerden will?
Grundsätzlich ja, aber jedes Netzwerk wird sich das gut überlegen müssen. Es bekommt schnell einen schlechten Ruf und verliert auch gesunde Mitglieder, sobald bekannt wird, dass es Mitglieder loswerden will, wenn sie höhere Kosten verursachen.
Wie sieht es mit der Prävention aus?
Heute ist der Anreiz zur Prävention seitens der Krankenversicherer praktisch bei null. Vielleicht redet einem der Hausarzt ins Gewissen, dass man so gesund wie möglich leben soll. Aber eigentlich verdient der Mediziner daran, wenn ich erneut zu ihm in die Praxis komme. Im Netzwerkmodell ist der Anreiz umgekehrt. Dieses hat alles Interesse daran, dass ich Prävention betreibe und mit meinen Erkrankungen das begrenzte Budget nicht durch unnötige Untersuchungen und Eingriffe belaste.
Wie entstehen Versorgungsnetze?
Dieser Prozess ist bereits im Gange. Die Initiative kann beispielsweise von Hausärzten ausgehen, die sich zunehmend mit Spezialisten, Therapeuten und Kliniken zusammenschliessen. Oder von Spitälern und Spitalgruppen. Im Ausland werden grosse Netzwerke auch von den Versicherern betrieben. Der Kostenträger ist dann auch der Leistungserbringer, da das Netzwerk auch der Versicherer ist. Das ist bei uns aufgrund der Rechtslage leider noch nicht möglich.
Verdienen Spital- und Spezialärzte zu viel? Der Mitte-Präsident Gerhard Pfister hat den Ärzten einen Imageverlust wie jenen der Banker vorausgesagt.
Ob Ärzte wirklich zu viel kassieren, ist von aussen nur schwer zu beurteilen. Diese Ärzte haben häufig auch Managementaufgaben und müssen neben ihrer hohen Fachkompetenz auch viel von Ökonomie verstehen. Es ist klar, dass man diese Leute gut bezahlen muss. Stossender ist etwas anderes.
Und zwar?
Der Ärztetarif hat seit seiner Einführung 1996 einen massiven Konstruktionsfehler. Die Maschinenmedizin wird viel besser bezahlt als die sogenannte sprechende Medizin. Die Hausärzte, Kinderärzte und Psychiater stehen in der Nahrungskette weiter unten. Nun ja, mit einem Einkommen von gut 200 000 Franken sind Hausärzte ja auch nicht gerade am Verhungern. Sie wissen ja, wie dieser Name entstanden ist.
Nein.
Ein Hausarzt hiess früher Hausarzt, weil er sich ein Haus leisten konnte. Heute kann sich nicht mehr jeder Hausarzt ein Haus leisten. Chirurgen und Apparatemediziner wie Radiologen verdienen dagegen überdurchschnittlich viel. Das ist mit ein Grund, warum wir zu wenige Hausärzte haben und zu wenig für die psychische Gesundheit tun.
Wieso sind die Bemühungen gescheitert, hier einen Ausgleich zu schaffen?
Zum einen, weil sich die Ärzteschaft unter sich nicht einig ist, und zum anderen, weil Änderungen nur kostenneutral eingeführt werden können.
Mit dem von der Ärztegesellschaft FMH und den Krankenversicherern des Verbandes Curafutura ausgehandelten Tarif Tardoc liegt seit längerem eine Lösung auf dem Tisch.
Das würde kaum etwas ändern, sondern nur zu einem Hin- und Herschieben der Kosten führen. Letztlich helfen nur mehr Pauschalen im ambulanten Bereich, wie sie von Santésuisse, dem anderen Verband der Krankenversicherer, propagiert werden. Doch auch hier wären die von mir vorgeschlagenen unternehmerischen Netzwerke eine gute Lösung. In diesen Netzwerken müssten sich die Ärzte untereinander über die Verteilung der eingenommenen Überschüsse einigen.
«Im Moment ist es im Schweizer Gesundheitswesen wie auf den deutschen Autobahnen. Jeder kann einfach Vollgas geben.»
Was halten Sie von der Kostenbremseinitiative der Mitte-Partei, die am 9. Juni zur Abstimmung kommt?
Die Annahme dieser Initiative hätte Auswirkungen, die nicht absehbar sind. Der vom Parlament ausgearbeitete Gegenvorschlag mit der Festlegung von Kostenwachstumszielen ist aber ein Schritt in Richtung Transparenz, auch wenn hier keine zwingenden Massnahmen bei übermässigem Kostenwachstum vorgesehen sind.
Welche Wirkung hätte die Einführung von solchen Kostenwachstumszielen?
Im Moment ist es im Schweizer Gesundheitswesen wie auf den deutschen Autobahnen. Jeder kann einfach Vollgas geben. Bildlich gesprochen würden wir damit Smiley-Geschwindigkeitsanzeigen aufstellen. Sie zeigen den Autofahrern an, ob sie sich an ein vorgegebenes Tempolimit halten. Und es wird transparent, wer zu schnell fährt im Quartier.