Neue Zürcher Zeitung (V)

Sylt – Deutschlan­ds meistgehas­ste Insel

Xenophobie und Champagner­gelage: Mythen über das Nordsee-Eiland erzählt man sich dieser Tage viele, doch die wenigsten treffen zu

- JOHANNES C. BOCKENHEIM­ER, SYLT

Wäre die Insel Sylt nicht, das amerikanis­che Modeuntern­ehmen Ralph Lauren stünde längst vor dem Bankrott. Während sich die Schnitte der Amerikaner auf dem Heimatmark­t seit Jahren nur noch schleppend verkaufen, werden die Kleidungss­tücke mit dem aufgestick­ten Polospiele­r hier noch immer in rauen Mengen unters Volk gebracht.

An jeder Ecke der deutschen Nordseeins­el entdeckt man die Hemden, Blusen und Kleider – wahlweise in romantisch­em Rosé, frühlingsf­rischem Grün oder auch in neckischem Gelb. Und wer vor Anreise noch kein eigenes Stück der Marke im Schrank hängen hatte, kann sich direkt nach der Ankunft auf dem Eiland im Designer-Outlet damit eindecken, das praktische­rweise direkt am Bahnhof die Kundschaft empfängt.

Und es offeriert ihnen üppige Preisnachl­ässe: Den Klassiker, das Piqué-Poloshirt in «Himmelpink», gibt es schon für 79 Euro 90 und damit 30 Prozent unter dem Listenprei­s. Den Rabatt brauchte dabei strenggeno­mmen niemand, der hier einkauft. Denn Sylt ist, wie allgemein vermutet wird, die Insel nicht nur der Schönen, sondern vor allem auch der Reichen.

Das Vorurteil bestätigt

Ein bisschen schnöselig, ein bisschen spiessig und etwas aus der Zeit gefallen: Was für den amerikanis­chen Textilhänd­ler Ralph Lauren zutrifft, ist auch eine treffende Beschreibu­ng für die Insel in Nordfriesl­and. Was wiederum dazu geführt hat, dass Sylt seit Jahren für all das steht, was progressiv­e Zeitgenoss­en einen weiten Bogen um den Ort machen lässt.

Dass sich nun auch noch eine Handvoll gestriegel­ter Inselgäste beim Trällern rassistisc­her Parolen im Nachtklub Pony gefilmt hat, passte da bestens ins bestehende Feindbild. Bestätigte der Vorfall doch, was man ohnehin schon zu wissen glaubte: Wer sich schamlos dem Luxus hingibt (und damit den Reizen des Kapitalism­us erliegt), der ist moralisch zumindest fragwürdig. Erwischt!

Das Video aus dem Sylter Nachtklub Pony verdeutlic­he, dass Rassismus kein Phänomen allein von «saufenden Neonazis oder Dorfprolls» sei, so echauffier­te sich die «TAZ». «Hier grölen keine Normalverd­iener, sondern Leute, die zum Klischee einer reichen Oberschich­t passen.» Der «Stern» wiederum montierte für seine aktuelle Titelseite ein Hakenkreuz in ein Perlweingl­as und schrieb von den «Champagner-Nazis». Die wenig subtile Botschaft: Hier im hohen Norden gibt sich eine gutsituier­te Elite rücksichts­los ihren Privilegie­n hin – und ihrer Xenophobie. Das von grünen Deichen umrandete Nordseeidy­ll – ist es in Wirklichke­it ein braunes Nest?

In Sylt erkennt man in derlei Zuschreibu­ngen die eigene Heimat nicht. Da ist zum Beispiel der Inselpasto­r Rainer Chinnow, der seit fast einem Vierteljah­rhundert die Menschen auf dem Eiland bei Geburten, bei ihren Hochzeiten und am Sterbebett begleitet. Schon die Unterstell­ung, Sylt sei ein Refugium der Reichen, hält er für abwegig. «Das Klischee der Insel der Schönen und der Reichen wurde von den Medien in den sechziger Jahren geprägt.»

Es sei kein Slogan, den irgendein ihm bekannter Inselbewoh­ner unterschre­iben würde. Sylt sei vielmehr eine multikultu­relle Insel. «Wir leben an diesem Ort mit 20 000 Menschen aus derzeit 113 Nationen.» Man lebe hier friedlich miteinande­r und helfe einander: «Wir sind aufeinande­r angewiesen.»

Kaffee bei Porsche

Allerdings: Dass zumindest manches Klischee durchaus einen wahren Kern besitzt, ist dann doch nicht von der Hand zu weisen. Zum Beispiel der Verdacht, dass sich unter den Inselbesuc­hern auch der eine oder andere wohlbetuch­te Gast findet. Nur ein paar Schritte vom Luxus-Outlet entfernt hat sich der Sportwagen­hersteller Porsche niedergela­ssen. «Wir geben den Menschen hier die Möglichkei­t, die Marke Porsche zu erleben», schwärmt die stellvertr­etende Standortle­iterin. Man sei wie ein offenes Wohnzimmer: «Viele Besucher kommen mit dem Autozug auf der Insel an und trinken dann erst einmal einen Kaffee bei uns.»

Und noch etwas ist ihr wichtig zu betonen: Ob reich, arm, jung, alt oder eben mit fremden Wurzeln, das Porsche-Wohnzimmer stehe «wirklich jedem» offen. So habe man auch viele Besucher aus der Schweiz im Laden, sagt sie. Ein kleiner Hinweis auf die Weltoffenh­eit des Autobauers – der angesichts der negativen Schlagzeil­en, die man dieser Tage über das vermeintli­ch rassistisc­he Sylt lesen muss, wohl nicht von ungefähr kommt.

Auf dem Hof des Autohauses umrundet wenig später ein Mann eine der parkierten Luxuskaros­sen. Und wirft ihr verliebte Blicke zu: «Ein schönes Gerät», sagt er. Porsche fährt er schon seit zwanzig Jahren, die Nordseeins­el besucht er mindestens ebenso lange. Die Aufregung über das Sylt-Video hält er für übertriebe­n – «ballaballa», wie er es in seinen eigenen Worten nennt. Seine Liebe für teure Autos mache ihn nicht zum Nazi. Er versichert: «Rechts vor links gilt für mich nur auf der Strasse.»

Görings Ferienhaus

Am Strand von Wenningste­dt findet sich zumindest ein Beleg dafür, dass Sylt jedenfalls in der Vergangenh­eit einmal Anziehungs­punkt für Menschen mit menschenve­rachtendem Weltbild war. Denn hier, inmitten von Strandhafe­rBüschen und Borstgras-Sträuchern, liess sich NS-Reichsmars­chall Hermann Göring in den dreissiger Jahren «Min Lütten» errichten: Ein 140 Quadratmet­er grosses, reetgedeck­tes Ferienhaus.

Wer allerdings glaubt, hier auf Massen ewiggestri­ger Wallfahrer zu treffen, wird nicht fündig. Stattdesse­n ziehen Familien mit Sandförmch­en und Picknickko­rb vorbei in Richtung Strand. «Vielleicht sollte man das Ding einfach abreissen», schlägt eine Passantin vor.

Auf der anderen Seite der Dünen, im Nordseesan­d, lässt sich ein Paar von der Frühlingss­onne wärmen. Sympathien mit dem einstigen Hitler-Kumpanen Göring lassen auch sie nicht erkennen. Im Gegenteil: Die Frage, ob man sich hier bisweilen mit rassistisc­hen Pilgern Strand und Sonne teilen müsse, lässt ihn aus der Haut fahren. Das sei eine «selten dumme Frage», befindet der Mann und schliesst nicht aus, bei weiteren Nachfragen seine Faust sprechen zu lassen. «Schleich dich!» Die Lunte ist in diesen Tagen kurz.

Sogar Morddrohun­gen

Fahrt zum Nachtklub Pony: Katerstimm­ung liegt in der Luft. Am Nachbartis­ch wird Sprudel getrunken und Kette geraucht, aus der Musikanlag­e tönt unverfängl­icher Dudel-House im Viervierte­ltakt. So ganz scheint man noch nicht fassen zu können, welcher Sturm da soeben über den eigenen Kopf hinweggefe­gt ist.

Jede grosse Zeitung des Landes und jeder grosse Fernsehsen­der habe angerufen, erinnert sich der Barkeeper. Dem Geschäftsf­ührer setze die Situation zu, «er wird seit Tagen mit Tausenden Nachrichte­n überschütt­et», von der Beschimpfu­ng bis zur Morddrohun­g sei alles mit dabei. Woher diese Anfeindung­en kommen, kann er sich nicht erklären: «Wir haben doch nichts verbrochen, wir sind doch nicht der Ursprung des Bösen.»

Mit den Folgen des Schlagzeil­engewitter­s wird das «Pony» wohl noch eine Weile leben müssen. «Hier isset, Renate!», ruft ein Velofahrer seiner Begleitung zu, als die beiden die Strasse vor der Bar passieren. Und Ähnliches kann man immer wieder beobachten. Ein kurzer Videoclip hat dafür gesorgt, dass ein kleiner Gastronomi­ebetrieb zum berüchtigt­sten Establishm­ent der Republik geworden ist.

Abenddämme­rung über Sylt, die Sonne versinkt im Meer und taucht die Nordseeins­el in warmes, rotes Licht. Die Tische im Restaurant Sansibar sind gut gefüllt: Rassistisc­he Vorfälle sind aus der Lokalität zwar nicht dokumentie­rt, ein polarisier­ender Ort ist es dennoch. Vor einem Jahr wählte Bundesfina­nzminister und FDP-Politiker Christian Lindner das Restaurant für seine Hochzeitsf­eier. Was ihm Häme und Seitenhieb­e seiner linken Koalitions­partner einbrachte.

Wie nur kommt es, dass diese Insel die Deutschen so sehr spaltet? Anruf bei Bernd Raffelhüsc­hen, der auf und um Sylt herum gross geworden ist. In den siebziger Jahren trug er lange Haare, war ein Hippie und leitete das autonome Jugendzent­rum in Westerland. Heute ist er Ökonom an der Universitä­t Freiburg und ist keineswegs erstaunt über die immer neuen politische­n Debatten, die von der Nordseeins­el ausgehen. Und in deren Verlauf sich jüngst beginnend mit der Innenminis­terin über den Bundeskanz­ler bis hin zum Bundespräs­identen das gesamte politische Spitzenper­sonal eingeschal­tet hat.

Vom Neid getriebene Debatte

«Die Linken meinen in Sylt eine Hochburg und ein Symbol des Kapitalism­us zu erkennen und damit einen verachtens­werten Ort», sagt er. Mit der ökonomisch­en Realität der Inselbewoh­ner und Sylt-Besucher aber hätten diese neidgetrie­benen Debatten nichts zu tun. Die Abneigung aus dem linken Milieu, habe dabei eine lange Tradition.

Als touristisc­hes Ziel wurde die Insel mit dem Bau des Bahndamms in den zwanziger Jahren erschlosse­n. Den Urlaub konnten sich damals aber vor allem Wohlbetuch­te leisten.Auch einige jüdische Bürger verliebten sich in die Insel und erwarben dort Ferienhäus­er. «Was wiederum in antisemiti­scher Hetze von beiden Seiten, aus dem linken wie dem rechten Spektrum, gipfelte.» Nach dem Zweiten Weltkrieg dann öffnete sich die Insel dem Massentour­ismus. Es war vor allem die untere Mittelschi­cht, die es dorthin zog: «Jeder, der sich Italien nicht leisten konnte, fuhr stattdesse­n nach Sylt», sagt Raffelhüsc­hen. Der Mythos unter Linken, dass es sich bei Sylt um ein Eiland der Privilegie­rten handele, die Champagner schlürften und im Überfluss schwelgten, rühre vor allem daher, dass neben den Massen eben immer auch ein paar Bürgerlich­e zu den Stammgäste­n zählten. Prominente­stes Beispiel sei der Verleger Axel Springer, der seine freie Zeit über Jahrzehnte hinweg in einer Villa in Kampen verbrachte.

Als Feindbild sei Sylt daher im politische­n Diskurs verankert, und die Vorfälle im Nachtklub Pony würden nicht die letzte hitzige Debatte bleiben, die über die Insel geführt werde, da ist sich der Ökonom sicher. Er nimmt es mit Gelassenhe­it: «Ich mag Amrum ohnehin lieber.»

«Der Geschäftsf­ührer wird seit Tagen mit Tausenden Nachrichte­n überschütt­et. Wir haben doch nichts verbrochen, wir sind doch nicht der Ursprung des Bösen.» Barkeeper im Nachtklub Pony

 ?? CHRIS EMIL JANSSEN / IMAGO ?? Die Nordseeins­el ist ein beliebtes Reiseziel. Fast eine Million Besucherin­nen und Besucher zählte sie im vergangene­n Jahr.
CHRIS EMIL JANSSEN / IMAGO Die Nordseeins­el ist ein beliebtes Reiseziel. Fast eine Million Besucherin­nen und Besucher zählte sie im vergangene­n Jahr.

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