Sylt – Deutschlands meistgehasste Insel
Xenophobie und Champagnergelage: Mythen über das Nordsee-Eiland erzählt man sich dieser Tage viele, doch die wenigsten treffen zu
Wäre die Insel Sylt nicht, das amerikanische Modeunternehmen Ralph Lauren stünde längst vor dem Bankrott. Während sich die Schnitte der Amerikaner auf dem Heimatmarkt seit Jahren nur noch schleppend verkaufen, werden die Kleidungsstücke mit dem aufgestickten Polospieler hier noch immer in rauen Mengen unters Volk gebracht.
An jeder Ecke der deutschen Nordseeinsel entdeckt man die Hemden, Blusen und Kleider – wahlweise in romantischem Rosé, frühlingsfrischem Grün oder auch in neckischem Gelb. Und wer vor Anreise noch kein eigenes Stück der Marke im Schrank hängen hatte, kann sich direkt nach der Ankunft auf dem Eiland im Designer-Outlet damit eindecken, das praktischerweise direkt am Bahnhof die Kundschaft empfängt.
Und es offeriert ihnen üppige Preisnachlässe: Den Klassiker, das Piqué-Poloshirt in «Himmelpink», gibt es schon für 79 Euro 90 und damit 30 Prozent unter dem Listenpreis. Den Rabatt brauchte dabei strenggenommen niemand, der hier einkauft. Denn Sylt ist, wie allgemein vermutet wird, die Insel nicht nur der Schönen, sondern vor allem auch der Reichen.
Das Vorurteil bestätigt
Ein bisschen schnöselig, ein bisschen spiessig und etwas aus der Zeit gefallen: Was für den amerikanischen Textilhändler Ralph Lauren zutrifft, ist auch eine treffende Beschreibung für die Insel in Nordfriesland. Was wiederum dazu geführt hat, dass Sylt seit Jahren für all das steht, was progressive Zeitgenossen einen weiten Bogen um den Ort machen lässt.
Dass sich nun auch noch eine Handvoll gestriegelter Inselgäste beim Trällern rassistischer Parolen im Nachtklub Pony gefilmt hat, passte da bestens ins bestehende Feindbild. Bestätigte der Vorfall doch, was man ohnehin schon zu wissen glaubte: Wer sich schamlos dem Luxus hingibt (und damit den Reizen des Kapitalismus erliegt), der ist moralisch zumindest fragwürdig. Erwischt!
Das Video aus dem Sylter Nachtklub Pony verdeutliche, dass Rassismus kein Phänomen allein von «saufenden Neonazis oder Dorfprolls» sei, so echauffierte sich die «TAZ». «Hier grölen keine Normalverdiener, sondern Leute, die zum Klischee einer reichen Oberschicht passen.» Der «Stern» wiederum montierte für seine aktuelle Titelseite ein Hakenkreuz in ein Perlweinglas und schrieb von den «Champagner-Nazis». Die wenig subtile Botschaft: Hier im hohen Norden gibt sich eine gutsituierte Elite rücksichtslos ihren Privilegien hin – und ihrer Xenophobie. Das von grünen Deichen umrandete Nordseeidyll – ist es in Wirklichkeit ein braunes Nest?
In Sylt erkennt man in derlei Zuschreibungen die eigene Heimat nicht. Da ist zum Beispiel der Inselpastor Rainer Chinnow, der seit fast einem Vierteljahrhundert die Menschen auf dem Eiland bei Geburten, bei ihren Hochzeiten und am Sterbebett begleitet. Schon die Unterstellung, Sylt sei ein Refugium der Reichen, hält er für abwegig. «Das Klischee der Insel der Schönen und der Reichen wurde von den Medien in den sechziger Jahren geprägt.»
Es sei kein Slogan, den irgendein ihm bekannter Inselbewohner unterschreiben würde. Sylt sei vielmehr eine multikulturelle Insel. «Wir leben an diesem Ort mit 20 000 Menschen aus derzeit 113 Nationen.» Man lebe hier friedlich miteinander und helfe einander: «Wir sind aufeinander angewiesen.»
Kaffee bei Porsche
Allerdings: Dass zumindest manches Klischee durchaus einen wahren Kern besitzt, ist dann doch nicht von der Hand zu weisen. Zum Beispiel der Verdacht, dass sich unter den Inselbesuchern auch der eine oder andere wohlbetuchte Gast findet. Nur ein paar Schritte vom Luxus-Outlet entfernt hat sich der Sportwagenhersteller Porsche niedergelassen. «Wir geben den Menschen hier die Möglichkeit, die Marke Porsche zu erleben», schwärmt die stellvertretende Standortleiterin. Man sei wie ein offenes Wohnzimmer: «Viele Besucher kommen mit dem Autozug auf der Insel an und trinken dann erst einmal einen Kaffee bei uns.»
Und noch etwas ist ihr wichtig zu betonen: Ob reich, arm, jung, alt oder eben mit fremden Wurzeln, das Porsche-Wohnzimmer stehe «wirklich jedem» offen. So habe man auch viele Besucher aus der Schweiz im Laden, sagt sie. Ein kleiner Hinweis auf die Weltoffenheit des Autobauers – der angesichts der negativen Schlagzeilen, die man dieser Tage über das vermeintlich rassistische Sylt lesen muss, wohl nicht von ungefähr kommt.
Auf dem Hof des Autohauses umrundet wenig später ein Mann eine der parkierten Luxuskarossen. Und wirft ihr verliebte Blicke zu: «Ein schönes Gerät», sagt er. Porsche fährt er schon seit zwanzig Jahren, die Nordseeinsel besucht er mindestens ebenso lange. Die Aufregung über das Sylt-Video hält er für übertrieben – «ballaballa», wie er es in seinen eigenen Worten nennt. Seine Liebe für teure Autos mache ihn nicht zum Nazi. Er versichert: «Rechts vor links gilt für mich nur auf der Strasse.»
Görings Ferienhaus
Am Strand von Wenningstedt findet sich zumindest ein Beleg dafür, dass Sylt jedenfalls in der Vergangenheit einmal Anziehungspunkt für Menschen mit menschenverachtendem Weltbild war. Denn hier, inmitten von StrandhaferBüschen und Borstgras-Sträuchern, liess sich NS-Reichsmarschall Hermann Göring in den dreissiger Jahren «Min Lütten» errichten: Ein 140 Quadratmeter grosses, reetgedecktes Ferienhaus.
Wer allerdings glaubt, hier auf Massen ewiggestriger Wallfahrer zu treffen, wird nicht fündig. Stattdessen ziehen Familien mit Sandförmchen und Picknickkorb vorbei in Richtung Strand. «Vielleicht sollte man das Ding einfach abreissen», schlägt eine Passantin vor.
Auf der anderen Seite der Dünen, im Nordseesand, lässt sich ein Paar von der Frühlingssonne wärmen. Sympathien mit dem einstigen Hitler-Kumpanen Göring lassen auch sie nicht erkennen. Im Gegenteil: Die Frage, ob man sich hier bisweilen mit rassistischen Pilgern Strand und Sonne teilen müsse, lässt ihn aus der Haut fahren. Das sei eine «selten dumme Frage», befindet der Mann und schliesst nicht aus, bei weiteren Nachfragen seine Faust sprechen zu lassen. «Schleich dich!» Die Lunte ist in diesen Tagen kurz.
Sogar Morddrohungen
Fahrt zum Nachtklub Pony: Katerstimmung liegt in der Luft. Am Nachbartisch wird Sprudel getrunken und Kette geraucht, aus der Musikanlage tönt unverfänglicher Dudel-House im Viervierteltakt. So ganz scheint man noch nicht fassen zu können, welcher Sturm da soeben über den eigenen Kopf hinweggefegt ist.
Jede grosse Zeitung des Landes und jeder grosse Fernsehsender habe angerufen, erinnert sich der Barkeeper. Dem Geschäftsführer setze die Situation zu, «er wird seit Tagen mit Tausenden Nachrichten überschüttet», von der Beschimpfung bis zur Morddrohung sei alles mit dabei. Woher diese Anfeindungen kommen, kann er sich nicht erklären: «Wir haben doch nichts verbrochen, wir sind doch nicht der Ursprung des Bösen.»
Mit den Folgen des Schlagzeilengewitters wird das «Pony» wohl noch eine Weile leben müssen. «Hier isset, Renate!», ruft ein Velofahrer seiner Begleitung zu, als die beiden die Strasse vor der Bar passieren. Und Ähnliches kann man immer wieder beobachten. Ein kurzer Videoclip hat dafür gesorgt, dass ein kleiner Gastronomiebetrieb zum berüchtigtsten Establishment der Republik geworden ist.
Abenddämmerung über Sylt, die Sonne versinkt im Meer und taucht die Nordseeinsel in warmes, rotes Licht. Die Tische im Restaurant Sansibar sind gut gefüllt: Rassistische Vorfälle sind aus der Lokalität zwar nicht dokumentiert, ein polarisierender Ort ist es dennoch. Vor einem Jahr wählte Bundesfinanzminister und FDP-Politiker Christian Lindner das Restaurant für seine Hochzeitsfeier. Was ihm Häme und Seitenhiebe seiner linken Koalitionspartner einbrachte.
Wie nur kommt es, dass diese Insel die Deutschen so sehr spaltet? Anruf bei Bernd Raffelhüschen, der auf und um Sylt herum gross geworden ist. In den siebziger Jahren trug er lange Haare, war ein Hippie und leitete das autonome Jugendzentrum in Westerland. Heute ist er Ökonom an der Universität Freiburg und ist keineswegs erstaunt über die immer neuen politischen Debatten, die von der Nordseeinsel ausgehen. Und in deren Verlauf sich jüngst beginnend mit der Innenministerin über den Bundeskanzler bis hin zum Bundespräsidenten das gesamte politische Spitzenpersonal eingeschaltet hat.
Vom Neid getriebene Debatte
«Die Linken meinen in Sylt eine Hochburg und ein Symbol des Kapitalismus zu erkennen und damit einen verachtenswerten Ort», sagt er. Mit der ökonomischen Realität der Inselbewohner und Sylt-Besucher aber hätten diese neidgetriebenen Debatten nichts zu tun. Die Abneigung aus dem linken Milieu, habe dabei eine lange Tradition.
Als touristisches Ziel wurde die Insel mit dem Bau des Bahndamms in den zwanziger Jahren erschlossen. Den Urlaub konnten sich damals aber vor allem Wohlbetuchte leisten.Auch einige jüdische Bürger verliebten sich in die Insel und erwarben dort Ferienhäuser. «Was wiederum in antisemitischer Hetze von beiden Seiten, aus dem linken wie dem rechten Spektrum, gipfelte.» Nach dem Zweiten Weltkrieg dann öffnete sich die Insel dem Massentourismus. Es war vor allem die untere Mittelschicht, die es dorthin zog: «Jeder, der sich Italien nicht leisten konnte, fuhr stattdessen nach Sylt», sagt Raffelhüschen. Der Mythos unter Linken, dass es sich bei Sylt um ein Eiland der Privilegierten handele, die Champagner schlürften und im Überfluss schwelgten, rühre vor allem daher, dass neben den Massen eben immer auch ein paar Bürgerliche zu den Stammgästen zählten. Prominentestes Beispiel sei der Verleger Axel Springer, der seine freie Zeit über Jahrzehnte hinweg in einer Villa in Kampen verbrachte.
Als Feindbild sei Sylt daher im politischen Diskurs verankert, und die Vorfälle im Nachtklub Pony würden nicht die letzte hitzige Debatte bleiben, die über die Insel geführt werde, da ist sich der Ökonom sicher. Er nimmt es mit Gelassenheit: «Ich mag Amrum ohnehin lieber.»
«Der Geschäftsführer wird seit Tagen mit Tausenden Nachrichten überschüttet. Wir haben doch nichts verbrochen, wir sind doch nicht der Ursprung des Bösen.» Barkeeper im Nachtklub Pony