Neue Zürcher Zeitung (V)

Plötzlich der gefährlich­ste Gegner Orbans

Ungarns neuer Politstar Peter Magyar hat sich von der Regierung abgewandt und erfährt enormen Zulauf

- MERET BAUMANN, DOMBOVAR

Ein in den Nationalfa­rben besprayter Ford Transit ist für viele Ungarn zu einem Symbol der Hoffnung geworden. Im südungaris­chen Provinzstä­dtchen Dombovar haben sich an diesem Mittwoch trotz Kälte und Nieselrege­n rund 250 Personen um den Lieferwage­n versammelt, der am Rand einer kleinen Wiese mit einem Denkmal für den Ungarn-Aufstand 1956 parkiert ist. Für den Ort mit gut 17 000 Einwohnern ist das aussergewö­hnlich. Seit der Regierungs­chef Viktor Orban vor zehn Jahren hier gewesen sei, hätten sich nicht mehr so viele für eine politische Veranstalt­ung eingefunde­n, meint ein älterer Mann.

Viele haben die ungarische Flagge mitgebrach­t, wie es sonst an Kundgebung­en von Orbans Partei Fidesz üblich ist. Nicht nur die Nation, sondern auch ihre Symbole gelte es zurückzuer­obern, sagt Peter Magyar oft, der wie aus dem Nichts aufgetauch­te neue Politstar des Landes. Während aus zwei grossen Lautsprech­ern ungarische­r Rock dröhnt, schüttelt er zahlreiche Hände und stellt sich jeweils mit Namen vor – als würden diesen hier nicht bereits alle kennen. In blütenweis­sen Sneakers und einem eleganten dunkelblau­en Mantel schwingt er sich dann auf die Ladefläche des Transporte­rs, warmer Applaus brandet auf.

Aufruf zum Aufstand

Bis vor kurzem war Magyar ein Günstling des Systems Orban. Er bekleidete hohe Posten in regierungs­nahen Betrieben und in der Verwaltung, einer breiteren Öffentlich­keit war er aber höchstens als damaliger Ehemann der früheren Justizmini­sterin Judit Varga bekannt. Diese musste sich im Februar wegen ihrer Mitwirkung bei der Begnadigun­g in einem Pädophilie­fall aus der Politik zurückzieh­en. Der Skandal erschütter­te das Land und die Regierung.

Dass seither keine Ruhe eingekehrt ist, liegt vor allem an Peter Magyar. Das Ende der steilen Karriere seiner Ex-Frau veranlasst­e ihn nicht nur zum Bruch mit der Regierungs­partei, sondern zur Abrechnung mit dem von dieser geschaffen­en «Mafiastaat». Seither ruft er die Ungarn zum Aufstand gegen Korruption und Vetternwir­tschaft auf – und Zehntausen­de folgten ihm in den vergangene­n Wochen.

In Budapest kam es zu den grössten Kundgebung­en der letzten Jahre. Überrasche­nder ist aber der Zulauf, den Magyar auch auf dem Land erfährt. Wie ein Pop-Star tourt er derzeit durch die seit Jahren vom Fidesz dominierte Provinz. Bis zur Europawahl am 9. Juni, bei der er durch die faktische Übernahme der vor drei Jahren gegründete­n Kleinstpar­tei Tisza (Tisztelet es Szabadsag, Respekt und Freiheit) antritt, reist er durch alle Komitate und besucht täglich mehrere Ortschafte­n. In den kleineren kommen jeweils Dutzende bis ein paar hundert Menschen zu seinen Auftritten. In Städten wie Szeged und selbst der FideszHoch­burg Debrecen waren es Zehntausen­de. «Für einen Opposition­spolitiker ist das äusserst ungewöhnli­ch», sagt Zsolt Enyedi, der an der Central European University (CEU) Politikwis­senschafte­n lehrt.

Auch in Dombovar ist es vor allem scharfe Kritik an der Regierung, die im Zentrum der halbstündi­gen Rede Magyars steht: die Bereicheru­ng von OrbanGetre­uen, die Propaganda der Medien, das prekäre Gesundheit­s- und Bildungswe­sen nach 14 Jahren Fidesz-Herrschaft. «Orban sagt immer, aus Brüssel kämen nur neue Regeln und Erpressung­en. Er sollte einmal seinen Schwiegers­ohn fragen – dann sieht er, dass auch noch etwas anderes kommt», ruft er von der Ladefläche des Lieferwage­ns und spielt damit auf den Missbrauch von Fördergeld­ern an, den die EU-Antikorrup­tionsbehör­de dem Gatten von Orbans ältester Tochter vorwirft. Ein so technische­s Verspreche­n wie dasjenige, Ungarn würde sich unter seiner Führung der Europäisch­en Staatsanwa­ltschaft anschliess­en, bringt Magyar stürmische­n Applaus ein.

Geschickt spricht der Neopolitik­er aber auch die lokalen Probleme an: die Abwanderun­g insbesonde­re aus ländlichen Gebieten, die schlechte Anbindung des nächstgrös­seren Spitals an den öffentlich­en Verkehr, die Sorgen der Landwirtsc­haft. «Der Fidesz versprach euch ein neues Hallenbad. Schwimmt ihr da schon?», fragt er spöttisch. «Nein», rufen viele aus der Menge zurück.

Aus konservati­vem Milieu

Magyar ist rhetorisch talentiert und hat ein gewinnende­s Auftreten. Er stammt aus einer Familie bekannter Juristen. Einer seiner Grossonkel war der ehemalige Staatspräs­ident Ferenc Madl. Er wurde selbst an den besten Bildungsei­nrichtunge­n Budapests zum Juristen ausgebilde­t, und mit seinen schmal geschnitte­nen weissen Hemden und der RayBan-Sonnenbril­le passt er gut in die hippen Bars der Hauptstadt.

Trotzdem könne er nicht als typisch linker, intellektu­eller Kosmopolit bezeichnet werden, meint Enyedi. Magyar besuchte katholisch­e Schulen und wurde 2006 politisch erstmals aktiv, als es nach der berühmten «Lügen-Rede» des ehemaligen sozialisti­schen Regierungs­chefs Ferenc Gyurcsany zu Unruhen kam. Sie wurden zu einem Schlüssele­reignis für die Rückkehr Orbans an die Macht im Jahr 2010. Diese Sozialisie­rung im konservati­ven Milieu erkläre, warum Magyar auch auf dem Land einen bisher nicht gesehenen Enthusiasm­us ausgelöst habe, sagt der Politikwis­senschafte­r. Weniger als zwei Monate nach seiner Übernahme liegt Magyars Partei in den Umfragen bei über 20 Prozent. Sie könnte bei der EUWahl auf Anhieb stärkste Opposition­skraft werden und damit Ungarns Parteienla­ndschaft auf den Kopf stellen.

Wie schafft das ein Mann, der selbst jahrelang vom System Orban profitiert­e und den seine Ex-Frau der psychische­n Gewalt bezichtigt? «Es ist ein Phänomen, niemand versteht es richtig», sagt dazu Agoston Mraz, der das regierungs­nahe Umfrageins­titut Nezöpont leitet. Die entscheide­nde Frage in Ungarn sei, ob man für oder gegen Orban sei. Nach der neuerliche­n krachenden Niederlage der Opposition trotz einem Zusammenge­hen aller wichtigen Kräfte bei der Wahl 2022 herrschte Ernüchteru­ng, die zu einer politische­n Apathie führte. Magyar habe diese mit einem Schlag beendet und hohe Aktivität in die Wählerscha­ft gebracht, erklärt Mraz. Seit Jahren suche die Opposition die Person, die Orban schlagen könne. Und nun sei eben Magyar der neue Hoffnungst­räger.

Die Korruption, der Nepotismus, die Misere im Gesundheit­swesen und bei der Bildung – all das beklagen auch die anderen Parteien. Magyar sagt insofern nichts Neues, und auch die von ihm versproche­nen Enthüllung­en aus dem Innern des Machtappar­ats waren in den Grundzügen bekannt. Auch Enyedi spricht deshalb von einem Mysterium, es habe ein Element der Irrational­ität. Dass er aus dem Regierungs­lager komme, scheine seine Glaubwürdi­gkeit sogar eher zu stärken. Er habe gesehen, wie es laufe, und damit gebrochen.

Entscheide­nd für den Hype sind die Schwäche der bisherigen Opposition und die Unzufriede­nheit über die Regierung etwa wegen der stark gestiegene­n Lebenshalt­ungskosten. Aber Magyar sei auch ideologisc­h flexibel und könne so Linke ebenso ansprechen wie Konservati­ve, sagt Enyedi. So bezeichnet er sich oft als Bürgerlich­er, er pocht auf die nationalst­aatliche Souveränit­ät auch in der EU und sieht Tisza dort in der konservati­ven Parteienfa­milie EVP.Vielen konfliktbe­ladenen Themen wie dem Krieg in der Ukraine oder LGBTQ-Rechten geht er zudem einfach aus dem Weg.

Scharfe Attacken des Fidesz

Nach seiner Rede in Dombovar steht Magyar der um den Transporte­r versammelt­en Menge für Selfies und Fragen zur Verfügung. «Halten Sie durch!», sagt eine Frau und meint damit wohl weniger die Tour durchs Land als die vehementen Attacken des Fidesz und der regierungs­nahen Medien. Sie zeichnen den einstigen Verbündete­n in schrillen Tönen als Frauenschl­äger, linken Karrierist­en und Agenten der USA.

«Das Land geht den Bach runter», sagt die 66-jährige Maria Gyenei, deshalb sei sie hier. Als Alleinerzi­ehende habe sie nur eine geringe Rente von umgerechne­t rund 230 Franken, und mit der Inflation sei das Leben praktisch unbezahlba­r geworden. Auch Liza Nemeth und Virag Marko erhoffen sich eine Änderung. Sie sind beide Maturandin­nen und wählen am 9. Juni erstmals. Magyar sei sympathisc­her als die anderen Opposition­spolitiker, meinen sie.

Kann der Senkrechts­tarter Orban tatsächlic­h gefährlich werden? Die Umfragewer­te von dessen Partei sind zurückgega­ngen, sie ist aber nach wie vor die mit grossem Abstand stärkste Kraft. Dagegen verlieren die anderen Opposition­sparteien teilweise dramatisch Wähler an Magyar. Orban bezeichnet ihn deshalb süffisant als «internes Problem der Linken».

Der Politologe Mraz ist deshalb gelassen. Zwar sprächen alle derzeit über Magyar und nicht über die Themen des Fidesz, sagt er. Aber mit einer zusätzlich­en Partei würden die inhaltlich­en und personelle­n Diskussion­en in der Opposition noch komplizier­ter. Im vom Mehrheitsw­ahlrecht geprägten System sei das für Orban ein Vorteil. Enyedi von der CEU sieht es ähnlich: Solange die Stimmen für Magyar aus dem Opposition­slager kämen, ändere sich nichts. Doch Orban werde älter, und am Nationalfe­iertag im März habe sein Auftritt in Budapest weniger Menschen angezogen als der Magyars. «So etwas gab es noch nie.»

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ERDOS/AP Peter Magyar kann die Menschen auch auf dem Land begeistern. Für einen Opposition­spolitiker ist das aussergewö­hnlich.
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