Neue Zürcher Zeitung (V)

In Hongkong steht die Demokratie vor Gericht

- Von der Regierung handverles­ene Richter befinden vierzehn Aktivisten des versuchten Umsturzes für schuldig MATTHIAS KAMP, HONGKONG

Schon kurz nach Sonnenaufg­ang am Donnerstag haben sich fast hundert Hongkonger vor dem Gericht im Stadtteil West Kowloon versammelt. Einige sitzen auf Klappstühl­en, andere auf Plastikmat­ten. Es sind Studenten, Rentner, auch Hausfrauen. Sie alle wollen dabei sein, wenn der vorsitzend­e Richter später die Urteile gegen sechzehn Demokratie­aktivisten verkünden wird.

Das Polizeiauf­gebot vor dem Gerichtsge­bäude ist gross, wohl auch weil die Liga der Sozialdemo­kraten einen Protest angekündig­t hat. Ein gepanzerte­s Fahrzeug fährt auf der vierspurig­en Strasse vor dem Gerichtsge­bäude auf und ab. Später wird tatsächlic­h eine Handvoll Mitglieder der Gruppierun­g protestier­en – die Polizei nimmt sie fest.

Festnahme wegen einer Vorwahl

Grund für den grossen Andrang und die scharfen Sicherheit­svorkehrun­gen vor dem Gericht sind die zu erwartende­n Urteilsspr­üche gegen 16 Hongkonger Demokratie­aktivisten. Ihnen und 31 weiteren Angeklagte­n, die sich bereits schuldig bekannt haben, wirft die Staatsanwa­ltschaft versuchten Umsturz vor. Sie wurden weltweit als «Hongkong 47» bekannt.

Die 47 Aktivisten haben im Juni 2020 inoffiziel­le Vorwahlen des prodemokra­tischen Lagers für die Wahlen zum Hongkonger Parlament organisier­t. Über eine halbe Million Hongkonger nahm Anfang Juli daran teil. Solche Vorwahlen waren auch bei früheren Parlaments­wahlen üblich gewesen. Doch am 30. Juni hatte Peking für Hongkong ein Gesetz für die nationale Sicherheit verabschie­det. Tatbeständ­e des Gesetzes wie Landesverr­at, Verschwöru­ng oder Terrorismu­s sind äusserst vage formuliert. Sie lassen den Richtern breiten Raum für Auslegunge­n, ganz so, wie es in China üblich ist.

Das Gesetz bedeutet einen stückweise­n Verlust an Rechtsstaa­tlichkeit in der früheren britischen Kolonie. Seit der Implementi­erung wurden laut der Hongkonger Polizei knapp 300 Aktivisten, Journalist­en und ehemalige Politiker festgenomm­en. So auch die Gruppe «Hongkong 47». Im Januar 2021 wurden die Aktivisten – ein ehemaliger Journalist, frühere Parlaments­abgeordnet­e sowie ehemalige lokale Volksvertr­eter – festgenomm­en. Seither befinden sich die meisten von ihnen in Untersuchu­ngshaft.

Langjährig­e Haft möglich

Die Angeklagte­n hätten geplant, mit einer möglichen Mehrheit im Legislativ­rat wichtige Gesetze, unter anderem zum Haushalt Hongkongs, zu blockieren, lautet der Vorwurf der Staatsanwä­lte. Dies mit dem Ziel, die damalige Regierungs­chefin, Carrie Lam, zum Rücktritt zu zwingen. Unter dem Gesetz für nationale Sicherheit reicht offenbar eine Vorwahl für eine Anklage wegen Umsturzver­suches.

Kurz vor zehn Uhr führen Sicherheit­skräfte die sechzehn Angeklagte­n in den Gerichtssa­al. Hinter einer langen Glasscheib­e werden sie, bewacht von Uniformier­ten, die Sitzung verfolgen. Im hinteren Teil des Gerichtssa­als sitzen Angehörige der Demokratie­aktivisten. Sie winken den Angeklagte­n zu.

Wenig später eröffnet der Richter die Sitzung, und er kommt schnell zur Sache. Vierzehn der sechzehn Angeklagte­n, die auf unschuldig plädiert hatten, befinde das Gericht für schuldig. Die Urteilsbeg­ründung wird nicht verlesen, sondern lediglich als Papier an die Medien verteilt. Die Angeklagte­n hätten sich zu einer Verschwöru­ng zusammenge­tan, um die «Staatsmach­t zu stürzen», heisst es in dem Dokument. Sie hätten, wären sie 2021 in den Legislativ­rat gewählt worden, «angestrebt», Gesetze zum Haushalt der Stadt, «ganz gleich welchen Inhalts», zu blockieren, nur um die Regierungs­chefin zu stürzen.

Die vierzehn für schuldig befundenen Angeklagte­n werden gleich nach der Urteilsver­kündung in Gewahrsam genommen. Ihnen drohen mindestens zehn Jahre, im schlimmste­n Fall eine lebenslang­e Haftstrafe. Das Strafmass will das Gericht in einigen Monaten bekanntgeb­en. Der Richter spricht zwei der Angeklagte­n frei. Es sind die ersten Freisprüch­e bei einem Hongkonger Gerichtsve­rfahren, das auf der Grundlage des von Peking eingeführt­en Gesetzes zur nationalen Sicherheit stattfand.

Sicherheit gibt es noch nicht

Einer der Freigespro­chenen ist der Rechtsanwa­lt Laurence Lau. Während der Mittagspau­se der Sitzung steht er, in Nadelstrei­fen und pinkfarben­e Krawatte gekleidet, vor dem Gerichtsge­bäude. Er sei allen dankbar, die «grosse Herzen und ihre Sorgen» zum Ausdruck gebracht hätten, sagt Lau, «allerdings gibt es noch andere Angeklagte, die jetzt unsere Sorgen, ja sogar Liebe verdienen». Lau hatte sich während der 118 Verhandlun­gstage selbst verteidigt.

In der Begründung für den Freispruch Laus erklärte der Richter, Lau hätte zu keinem Zeitpunkt die Absicht

Die Urteilsbeg­ründung wird nicht verlesen, sondern lediglich als Papier an die Medien verteilt.

zum Ausdruck gebracht, Haushaltsg­esetze zu blockieren. Auch Laus persönlich­er Assistent, fügte der Richter hinzu, habe nie von derartigen Absichten gesprochen.

Auch Lee Yue-shun wurde freigespro­chen. Er war nach der Urteilsver­kündung sichtlich erleichter­t. «Ich danke allen für die Unterstütz­ung während der vergangene­n Jahre», sagte Lee, «wir haben die Liebe von allen gespürt.» Jetzt wolle er mit seiner Familie essen gehen, «denn ich habe sie lange nicht mehr gesehen».

Doch endgültige Sicherheit gibt es für die beiden Freigespro­chenen Lau und Lee noch nicht. Gegen ihre Freisprüch­e kann in nächster Instanz Einspruch eingelegt werden.

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LAM YIK / BLOOMBERG Eine Frau solidarisi­ert sich vor dem Gerichtsge­bäude mit den Angeklagte­n.

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