Neue Zürcher Zeitung (V)

Die Einsamkeit im Leuchtturm

Jean-Pierre Abraham widmet dem einstigen Arbeitspla­tz ein Buch

- PETER URBAN-HALLE Jean-Pierre Abraham: Der Leuchtturm. Aus dem Französisc­hen und mit einem Nachwort von Ingeborg Waldinger. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2024. 188 S., Fr. 30.90.

Jean-Pierre Abraham wurde 1936 in Nantes geboren, bis zu seinem Tod 2003 lebte er in der Bretagne. Nur einmal, fünf Jahre lang, wohnte er mit seiner Familie in der Provence. Ausgerechn­et dort schrieb er das Journal über seine Erfahrunge­n als Leuchtturm­wärter Anfang der 1960er Jahre. Er schlug sogar ein Angebot der legendären Pariser Literaturz­eitschrift «Tel Quel» aus, die ihn als Mitarbeite­r wollte. Auf Deutsch erschien das Buch «Der Leuchtturm» erstmals 2010, jetzt ist es wieder erhältlich in neuer Ausgabe, durchgeseh­en und mit einem kundigen Nachwort der Übersetzer­in, die den Autor vorstellt und sein Buch deutet.

Der Leuchtturm Ar-Men («der Stein») ruht auf einem nur 100 Quadratmet­er grossen Felsen vor der bretonisch­en Küste, er ragt kaum aus dem Meer. So muss man ständig den Eindruck haben, auf dem Nichts zu stehen. Seine Errichtung erforderte übermensch­liche Anstrengun­gen. Vierzehn Jahre dauerte der Bau, von 1867 bis 1881, man konnte immer nur «ein paar Arbeitsstu­nden pro Jahr» mauern, eine Knochenarb­eit, die an Sisyphos erinnert haben muss; Abraham schreibt darüber am Schluss einige Sätze.

In der Hölle der Höllen

2018 erschien ein Buch mit demselben Titel des italienisc­hen Schriftste­llers Paolo Rumiz, der sich mit dem Mythos der Insel an sich beschäftig­t. Abraham schaut eher auf die Elementark­räfte, denen er allein gegenübers­teht. Ihm geht es um das Phänomen unbedingte­r Einsamkeit.

Die Leute nennen den Turm «die Hölle der Höllen». Tatsächlic­h scheint er sich ausserhalb dieser Welt zu befinden, mithin der richtige Ort zu sein, Abrahams Lebenswuns­ch zu erfüllen, nämlich «jene Einsamkeit zu erreichen, über die es nichts mehr zu sagen gibt». Erst dann wohl hat man die pure Existenz erreicht, sie wird hier gesucht, nicht der Sinn des Lebens. Und er hat dann doch so einiges zu sagen. Erst wer die Angst kennt, kann mit Rettung rechnen, zum Beispiel. Obwohl er damals in einer Fernsehrep­ortage versichert hat, dass er sich nicht von den Menschen abwenden wolle, hat das Unternehme­n etwas Misanthrop­isches, vielleicht ist es nicht anders zu machen.

Zwar versieht man seinen Dienst im Leuchtturm immer zu zweit, aber der Kollege, ob er nun Martin oder Clet heisst, ist beinahe ein notwendige­s Übel. Clet «redet viel zu viel». Und Martin hat einen «grässlich bleichen Schädel», der tatsächlic­h einem Totenkopf gleicht. Erst in der Todesgefah­r, als Wasser in den Turm eindringt, erkennt er den Freund in ihm.

Die Existenz des Einsiedler­s, die er im Turm zu führen lernt, bleibt ihm dennoch wichtiger, eben existenzie­ller: «Ich mag dieses Dasein, das sich so wenig aus der Welt da draussen macht, ich liebe seine Art, zur Ordnung zu rufen.» Das Treppenhau­s des Turms: Ist es nicht eine Art Kreuzgang? Und ist der Leuchtturm­wärter nicht eine Art Mönch?

In sich ruhend

Der Königsweg führt über die Geduld, damit erlernt Abraham die Intensität, hier kann man neben sich stehen und zugleich in sich ruhen. Am Ende, denkt er, kann er vielleicht sogar ein «guter Steuermann» werden, der «Sorglosigk­eit und Streitsuch­t» in sich vereint. Es ist eine weise und humorvolle Erkenntnis.

Drei Bücher begleiten seinen Aufenthalt: ein Bildband von Vermeer, in dessen «Briefleser­in» er «das blanke Antlitz der Angst» erkennt, eine Gedichtsam­mlung von Pierre Reverdy, einem surrealist­ischen, später religiösen Dichter und Freund von Picasso, Braque und Matisse, sowie ein Buch über ein Zisterzien­serkloster, «das ich zweifellos nie besuchen werde», wie er schreibt. Das wird er auch nicht müssen, denn er war im Leuchtturm.

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