Neue Zürcher Zeitung (V)

Song-Verbot nach dem Sylt-Eklat

Volksfeste verbannen das Lied «L’amour toujours»

- JONAS HERMANN, BERLIN

Sie sind geächtet, sie sind entlassen: Für mindestens zwei junge Erwachsene hat das Pfingstwoc­henende auf der deutschen Insel Sylt Konsequenz­en. Sie verloren ihre Jobs, weil sie bei einer Party einen rassistisc­hen Liedtext grölten. Ein Video davon fand den Weg in die Öffentlich­keit, die Empörung war selbst für deutsche Verhältnis­se gewaltig: Kanzler und Präsident äusserten sich besorgt. Deutsche Medien konnten die Warnung vor einem Rechtsruck mit Kapitalism­uskritik anreichern, weil Sylt als Insel der Reichen gilt.

«Deutschlan­d den Deutschen, Ausländer raus, Ausländer raus, Ausländer raus» sangen dort junge Menschen zur Melodie des Party-Hits «L’amour toujours», den der italienisc­he DJ Gigi DA’ gostino im Jahr 1999 veröffentl­icht hatte. Schon mindestens ein halbes Jahr vor der Party auf Sylt war sein Song erstmals verunstalt­et worden. Bei einem Erntefest im ostdeutsch­en Bundesland Mecklenbur­g-Vorpommern sangen Besucher denselben rassistisc­hen Vers wie auf Sylt.

Nun wird durchgegri­ffen

Weitere Vorfälle dieser Art gab es kürzlich in den Bundesländ­ern Niedersach­sen und Hessen sowie in der bayrischen Stadt Erlangen. Dort sollen ein 21-Jähriger und ein 26-Jähriger auf einem Volksfest die besagten Zeilen gesungen haben. Der Sicherheit­sdienst schritt ein.

Auf den grossen Volksfeste­n soll sich Derartiges nicht wiederhole­n. «L’amour toujours» darf beim Oktoberfes­t in München nicht gespielt werden. «Auf der Wiesn ist für den ganzen rechten Scheissdre­ck kein Platz», sagte der zuständige Münchner Wirtschaft­sreferent Clemens Baumgärtne­r von der CSU. Auch in Stuttgart wird durchgegri­ffen: Auf der EM-Fanmeile und dem grossen Volksfest Cannstatte­r Wasen soll «L’amour toujours» nicht erklingen.

«Wenn man solche unappetitl­ichen Auftritte sieht, fragt man sich wirklich, was in den Köpfen dieser jungen Menschen vorgeht», sagte die sozialdemo­kratische Bundestags­präsidenti­n Bärbel Bas zu den Gesängen. Ohne echtes Interesse an einer Antwort schimmerte hier kurz die entscheide­nde Frage durch: Sind die Gröler alle rechtsradi­kal? So stellen es zumindest die meisten deutschen Politiker und Medien dar. Sie blenden aus, dass Provokatio­nslust oft das plausibler­e Motiv sein dürfte.

Nirgendwo lässt sich mit rechtsradi­kalem Geschwurbe­l so leicht provoziere­n wie in Deutschlan­d. Daher ist es gerade bei Männern im jungen Erwachsene­nalter fraglich, ob das Mitsingen der besagten Zeilen als Beleg einer stramm rechtsnati­onalen Gesinnung gelten kann. Nun soll es also ein Verbot regeln, auch wenn die Erfahrung zeigt, dass man damit nicht weit kommt. Im Sommer 2022 erhitzte «Layla» die Gemüter in Deutschlan­d. Das harmlose Liedchen handelt von einer Prostituie­rten. Politiker äusserten sich empört, manche Volksfeste verboten es.Trotzdem oder gerade deswegen wurde «Layla» zum Sommerhit und zum kommerziel­l erfolgreic­hsten Song des Jahres 2022 in Deutschlan­d.

Eigentlich ein Liebeslied

Bei «L’amour toujours» liegen die Dinge allerdings etwas anders: Der Song an sich ist völlig harmlos. Sein Schöpfer Gigi D’Agostino hat jüngst erklärt, dass es sich um ein reines Liebeslied handle. Der Musikverla­g Zyx, der die Rechte am Song hält, hat sogar Strafanzei­ge gegen Unbekannt erstattet – wegen Volksverhe­tzung und möglicher Verletzung­en des Urheberrec­hts. Nicht der Song ist also das Problem, sondern die Uminterpre­tation. Dadurch erhält das Verbot auf Volksfeste­n eine andere Dimension als bei «Layla».

In den Deutschlan­d-Charts von Apple Music und Spotify ist er trotz seinem Alter wieder in den Top 50 vertreten, Tendenz steigend. Möglicherw­eise ein erstes Anzeichen dafür, dass ein Verbot auch dieses Mal das Gegenteil dessen bewirken könnte, was es eigentlich bewirken soll.

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