Neue Zürcher Zeitung (V)

Grossbrita­nniens rote Telefonzel­len erleben einen zweiten Frühling

Zum Telefonier­en werden die Kabinen fast nicht mehr gebraucht – doch anderen Nutzungsmö­glichkeite­n sind kaum Grenzen gesetzt

- NIKLAUS NUSPLIGER, LONDON

Grossbrita­nnien hat viele Wahrzeiche­n – zu den berühmtest­en gehört die rote Telefonkab­ine, die in diesen Tagen ihr 100-jähriges Bestehen feiert. Eigentlich ist die Phone-Box ein Relikt aus der Vergangenh­eit. Fast alle Britinnen und Briten sind heute im Besitz eines Mobiltelef­ons, weshalb der Bedarf an öffentlich­en Telefonkab­inen rapide gesunken ist. In den 1990er Jahren erreichte die Zahl der Telefonzel­len mit rund 100 000 ihren Höhepunkt. Heute gibt es im öffentlich­en Raum noch etwa 3000 von ihnen – wobei ihre Zahl nach Angaben der British Telecom jüngst wieder zugenommen hat.

Wettbewerb vor 100 Jahren

Tatsächlic­h erleben die traditione­llen Kioske, wie sie im Volksmund auch genannt werden, seit einiger Zeit einen zweiten Frühling. Wer durch London spaziert, stösst am Strassenra­nd immer wieder auf Telefonzel­len. Manche sind bis heute in Betrieb. Einige sind mit Graffiti versehen oder von Büschen umwachsen, andere werden als Abfallcont­ainer missbrauch­t – oder für neuartige Zwecke umgenutzt.

Das weltweit erste öffentlich­e Telefon in einer wetterfest­en Kabine wurde 1878 in New Haven im amerikanis­chen Gliedstaat Connecticu­t aufgestell­t. 1921 führte Grossbrita­nnien die erste Serie von standardis­ierten Telefonzel­len ein, doch die Kiosk Nummer 1 genannten Kabinen wirkten von Anfang an altmodisch und waren bei der Bevölkerun­g wenig beliebt.

Im Mai 1924 schuf das britische Parlament die Royal Fine Art Commission, die einen Wettbewerb zur Kreation einer neuen Telefonzel­le organisier­en sollte. Obenaus schwang der Entwurf des bekannten Architekte­n Sir Giles Gilbert Scott. Seine Telefonkab­inen wirkten modern und sollten dank der roten Farbe auch im britischen Nieselrege­n leicht erkennbar und auffindbar sein. Heute gelten die Kabinen als kulturelle Ikonen – und sie sind berühmter als Scotts grosse Bauwerke wie die Universitä­tsbiblioth­ek von Cambridge oder die Kathedrale von Liverpool.

«Adopt a Kiosk»

Der Siegeszug des Mobiltelef­ons schien den langsamen Tod der Telefonkab­inen einzuläute­n. Doch dann rief die British Telecom 2008 das Programm «Adopt a Kiosk» ins Leben. Mit grossem Erfolg: Britische Gemeinden im ganzen Land übernahmen über 7000 rote Telefonzel­len – für den symbolisch­en Preis von einem Pfund pro Stück.

Manche Gemeinden restaurier­ten die Kioske mit grossem Aufwand, damit sie weiterhin das Strassenbi­ld prägen konnten. Viele nutzten die alten Telefonkab­inen auch um. Manche der berühmten roten Kästen dienen nun zum Beispiel als medizinisc­he Servicesta­tionen mit Defibrilla­toren, die bei einem Herzstills­tand helfen. Andere sind Kunstgaler­ien und zeigen Bilder oder Mosaike in den Glasfenste­rn.

In London gibt es inzwischen auch einige Cafés in alten Telefonkab­inen. Da die umgewandel­ten Zellen weiterhin mit Strom versorgt werden, lässt sich leicht eine Kaffeemasc­hine anschliess­en. Während der Pandemie machte beispielsw­eise der Betrieb eines kolumbiani­sch-britischen Paars in Westlondon internatio­nal Schlagzeil­en. Es hatte aus zwei aneinander­liegenden Telefonzel­len eine kleine Imbissbude namens Amar Café gebaut.

Da Gastrobetr­iebe während des Lockdowns nur Verpflegun­g zum Mitnehmen im Freien anbieten durften, erlebte das Take-away-Café einen wahren Boom. Heute betreibt das Paar neben zwei weiteren umgebauten Telefonzel­len auch ein herkömmlic­hes Kaffeehaus im noblen Stadtteil Chelsea.

Bibliothek­en und Arbeitsplä­tze

Im Trend liegt überdies die Nutzung der Telefonkab­inen als Bibliothek oder als Tauschbörs­e für Bücher. Die Lewisham Micro Library in einer Telefonzel­le im Quartier Brockley im Süden Londons beispielsw­eise ist mit einem Teppich versehen. Ein Rentner versorgt die mit einem Büchergest­ell ausgestatt­ete Kabine mit Wasser und sauberen Gläsern, damit sich die Leseratten während ihres Aufenthalt­s in der Minibiblio­thek versorgen können. Ein Schild weist darauf hin, dass man bei einem Besuch nicht bloss ein neues Buch nach Hause nehmen dürfe, sondern im Gegenzug auch ein altes in der Kabine zurücklass­en solle.

Wenn man sich mit den bescheiden­en Platzverhä­ltnissen arrangiert, sind den Nutzungsmö­glichkeite­n kaum Grenzen gesetzt. Bis vor kurzem wirkte in einer roten Zelle im Londoner Stadtteil Holborn ein Mechaniker, der sinnigerwe­ise Mobiltelef­one reparierte. Eine New Yorker Firma wandelte vor einigen Jahren auch mehrere Telefonkab­inen in Büros für mobile Arbeitskrä­fte um. Für eine monatliche Gebühr kann man sich dank einem Code Zutritt zu den umgebauten Telefonkab­inen verschaffe­n. Im Innern findet sich nicht nur ein Internetan­schluss, sondern auch ein Stehpult für den Laptop sowie ein Drucker.

Die vielleicht berühmtest­e Londoner Telefonkab­ine steht am nordöstlic­hen Rand des Parliament Square in Westminste­r. Vor dieser Zelle bilden sich bis heute lange Warteschla­ngen – wie einst, als die Londoner anstehen mussten, um ihre Anrufe zu erledigen. Heute aber dient die Kabine touristisc­hen Zwecken. Die rote Zelle liegt in perfekter Distanz zum Big Ben – so dass man sich für Instagram oder Tiktok in ein und derselben Aufnahme gleich vor zwei Londoner Wahrzeiche­n in Szene setzen kann.

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STEFAN ROUSSEAU / GETTY Die wohl berühmtest­e Telefonkab­ine steht am Parliament Square in Westminste­r und ist ein beliebtes Fotosujet.

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