Neue Zürcher Zeitung (V)

Hohe Hürden beim Einstieg in die Berufswelt

Jugendlich­e mit Handicap erleben die Suche nach einer Lehr- oder Arbeitsste­lle als ausgrenzen­d

- STEFAN HOTZ

Milena Schmid ist auf den Rollstuhl angewiesen und wird wegen ihrer leicht schleppend­en Sprechweis­e manchmal zu Unrecht nicht ganz für voll genommen. Ipek Kurtulus ist nahezu blind und musste ihre Lehrabschl­ussprüfung ohne die versproche­nen Hilfsmitte­l schreiben. Es sind zwei selbstbewu­sste junge Frauen, die entschloss­en sind, in der Arbeitswel­t zu bestehen. Sie haben auf unterschie­dliche Art ein Handicap und haben es doch geschafft, eine Berufsausb­ildung abzuschlie­ssen.

Selbstvers­tändlich ist das keineswegs. Zwar gilt der bildungspo­litische Grundsatz «Kein Abschluss ohne Anschluss» für alle am Ende der Volksschul­e. Doch für junge Menschen mit einer Beeinträch­tigung ist der Einstieg in die Arbeitswel­t ungleich schwierige­r. Die Zahl der Lehrabbrüc­he ist hoch. Die Volksschul­e bietet für Kinder mit einer Beeinträch­tigung an fünf Tagen in der Woche einen klar strukturie­rten Rahmen, der auch zusätzlich­e Unterstütz­ung vorsieht. Mit der Berufsausb­ildung unterteilt sich der Alltag dagegen in den Betrieb und die Berufsschu­le, wo es oft an einem heilpädago­gischen Angebot mangelt.

Auch wenn heute an der Oberstufe allgemein viel vorgekehrt wird für den Einstieg in die Arbeitswel­t: Die Berufswahl ist am Ende Sache der Jugendlich­en und ihrer Eltern. Mit einem Handicap ist das ein umso grösserer Schritt. Es fallen lebensbest­immende Entscheidu­ngen: vor allem, ob man eine dreijährig­e Lehre antritt oder lediglich eine vereinfach­te zweijährig­e Ausbildung mit eidgenössi­schem Berufsatte­st (EBA), die frühere Anlehre. Es geht auch um die Weichenste­llung, wer im zweiten, geschützte­n Arbeitsmar­kt tätig ist. Und wer den Weg in den ersten Arbeitsmar­kt mit all seinen Anforderun­gen anstrebt, wie die beiden Protagonis­tinnen hier.

Geplatzter Berufswuns­ch

Die 29-jährige Milena Schmid hat seit dem 10. Lebensjahr eine seltene Krankheit, die ihre Koordinati­onsfähigke­it so stark beeinträch­tigt, dass sie ausser Haus auf den Rollstuhl angewiesen ist. Sie absolviert­e im Kanton Aargau die Bezirkssch­ule, das entspricht im Kanton Zürich der Sekundarst­ufe A. Zunächst konnte sie sich ihren Berufswuns­ch als Lebensmitt­eltechnolo­gin erfüllen und fand eine Lehrstelle in einer Grossbäcke­rei.

Dann verschlech­terte sich ihr gesundheit­licher Zustand, sie wurde unsicherer auf den Beinen: «Ich bewegte mich zwischen Maschinen und musste an ihnen hantieren. Mit der Zeit wurde es einfach zu gefährlich», erzählt sie. Sie kam mit dem Betrieb überein, das Lehrverhäl­tnis aufzulösen. Milena Schmid meldete sich bei der IV an, die ihr einen Job-Coach zur Seite stellte. In einer Sozialfirm­a konnte sie eine, wie sie sagt, «halbgeschü­tzte» KV-Lehre abschliess­en, aber immerhin mit dem eidgenössi­schen Fähigkeits­zeugnis (EFZ).

Das Angebot, danach im Betrieb auf einer Stelle im zweiten Arbeitsmar­kt zu bleiben, schlug sie aus. «Erstens ist da der Lohn mickrig. Und arbeitet man einmal an einem geschützte­n Arbeitspla­tz, wird es sehr schwierig, den Weg zurück in den ersten Arbeitsmar­kt zu finden», sagt sie. Es folgte ein Praktikum, das sie ebenso nicht verlängert­e, weil sie den Eindruck erhielt, sie sei vor allem als billige Arbeitskra­ft gefragt. Mit etwas Fürsprache ihrer Mutter fand sie eine Stelle in einem technische­n Unternehme­n, erst in der Buchhaltun­g, dann am Empfang, wo sie auch Rechnungen von Lieferante­n verarbeite­te. Dann wurde ihr Job allerdings durch die fortschrei­tende Digitalisi­erung überflüssi­g. Sie zog zu ihrem Freund nach Dielsdorf. Seit zwei Jahren hat sie keine feste Stelle mehr.

Die 23-jährige Ipek Kurtulus ist seit Geburt auf einem Auge blind, auf dem anderen ist die Sehkraft stark eingeschrä­nkt. Sie beendete mithilfe einer unterstütz­enden Lehrkraft die Sekundarsc­hule in einer Regelklass­e. Eigentlich interessie­rte sie sich für die Modebranch­e. Mit ihrer Sehbeeintr­ächtigung sei eine Arbeit in diesem Bereich nicht möglich, hiess es. «Ich konnte nicht selbst entscheide­n. Als junge Person glaubt man, was einem die Erwachsene­n sagen», sagt sie. Sie betont aber ebenso, sie habe immer die Unterstütz­ung der Eltern gehabt und Lehrkräfte hätten dafür gekämpft, dass sie nicht in eine Schule für Sehbeeintr­ächtigte und Blinde geschickt worden sei. Auch die Kolleginne­n und Kollegen hätten sie immer akzeptiert.

Ipek Kurtulus machte dann eine Ausbildung als Büroassist­entin in einer Stiftung, allerdings nur mit EBA-Abschluss, wegen der Sehproblem­e in der Schule. «Damals ahnte ich nicht, was das meiner Zukunft antun würde, welch grosser Stein mir in den Weg gelegt wurde.» Die Ausbildung sei deprimiere­nd gewesen, sie habe als Einzige in ihrer Gruppe die Lehre abgeschlos­sen. Der EBA-Abschluss erwies sich als Stigma bei Bewerbunge­n.

Prüfung ohne Hilfsmitte­l

Die Abschlussp­rüfung erlebte sie als Trauma. Obwohl sie ein Jahr vorher angeben musste, welche Hilfsmitte­l sie benötigte – A3-Vergrösser­ungen oder einen grossen Bildschirm –, stand am entscheide­nden Tag wenig zur Verfügung. «Es war, wie wenn jemand anderes die Prüfung ohne Stift hätte schreiben müssen. Das werde ich nie vergessen.» Das Prüfungsbl­att sei am Ende nass von Tränen gewesen. Trotz der schwierige­n Situation bestand sie die Prüfung.

«Mit der richtigen Unterstütz­ung wäre ich in der Lage gewesen, eine Ausbildung auf dem normalen Weg abzuschlie­ssen», ist Ipek Kurtulus überzeugt. Vielleicht hätte es etwas länger gedauert. Als sich das Sehvermöge­n verschlech­tert habe, habe sie sich beinahe den zweiten Arbeitsmar­kt einreden lassen. Aber eine Stelle «ohne richtige Arbeit» sei nichts für sie. Während neun Monaten absolviert­e sie in Basel eine intensive Schulung für moderne Hilfsmitte­l am Computer wie die Sprachausg­abe. Nach längerer Suche vermittelt­e die IV ihr eine befristete Stelle als Sachbearbe­iterin.

Die Geschichte­n von Milena Schmid und Ipek Kurtulus veranschau­lichen die Hürden für Menschen mit Handicap beim Übertritt in die Berufsbild­ung. Dort ist der Unterricht weniger individual­isiert, der Zeitdruck steigt, in der Arbeitswel­t sind gute Fähigkeite­n in Kommunikat­ion und Multitaski­ng gefragt.

Ziel der Konferenz der kantonalen Erziehungs­direktoren ist eine Abschlussq­uote von 95 Prozent in der Sekundarst­ufe II für alle Jugendlich­en. Derzeit liegt die Schweiz bei 91 Prozent. Dieser Wert kann gerade mit der verbessert­en Integratio­n von Menschen mit einem Handicap erhöht werden. «Wir sind auf dem Weg, aber noch nicht da, wo wir sein wollen», stellt Claudia Schellenbe­rg fest. Sie ist Professori­n an der Interkanto­nalen Hochschule für Heilpädago­gik in Zürich (HfH) und befasst sich mit dem Übertritt von der Schule in das Arbeitsleb­en.

Wichtig gerade für Menschen mit einem Handicap ist beim Übergang Schule-Beruf laut Schellenbe­rg die Stärkung der überfachli­chen Kompetenze­n, wie im Lehrplan 21 vorgesehen. Ziel ist, einen zu Persönlich­keit und Fähigkeite­n passenden Beruf zu finden. Im internatio­nalen Vergleich attestiert sie der Schweiz bei der berufliche­n Integratio­n eine gewisse Vorreiterf­unktion. Zur dreijährig­en Lehre EFZ und zum Attest EBA gibt es noch das Angebot einer niederschw­elligen, praktische­n Ausbildung für jene, die keinen Zugang zu einer Berufsausb­ildung und Lernschwie­rigkeiten haben.

Laut einer Studie der Hochschule verbessert sich aber die Durchlässi­gkeit zwischen den Bildungsgä­ngen. Nach einer Ausbildung mit EBA absolviere­n immerhin rund 40 Prozent später eine Lehre mit EFZ, und etwa 18 Prozent mit einer praktische­n Ausbildung können noch ein EBA erwerben.

Etwa 20 Prozent aller Jugendlich­en am Ende der Volksschul­e haben in irgendeine­r Form ein Handicap. Die Vielfalt ist enorm, sie reicht von Leseund Rechenschw­ächen wie Legastheni­e und Dyskalkuli­e über verschiede­ne Beeinträch­tigungen von Körper und Sinnen und chronische Krankheite­n bis zu psychische­n Problemati­ken wie ADHS, Depression, Angststöru­ngen oder Schwierigk­eiten im Sozialverh­alten.

Der integrativ­e Unterricht in einer Regelklass­e wirkt sich laut einer weiteren Studie für den Übertritt in die spätere Ausbildung günstiger aus als der Besuch einer heilpädago­gischen Schule. Die Selbsteins­chätzung der Jugendlich­en setze früh ein, so die Wissenscha­fterin. Wichtig sei eine realitätsn­ahe Vorstellun­g der Berufswahl.

Jede Lehrperson sei gefordert, so zu unterricht­en, dass alle Lernfortsc­hritte machen könnten und für den Einstieg in die Berufswelt gut vorbereite­t seien, betont Schellenbe­rg. Die Schweiz hat die Uno-Konvention über die Rechte Behinderte­r unterzeich­net, die auch ein Recht auf Arbeit umfasst. Im Berufsbild­ungsgesetz des Bundes ist die Integratio­n von Menschen mit Beeinträch­tigung mehrfach erwähnt.

In einem neuen Forschungs­projekt bis 2027 legt die HfH laut Schellenbe­rg nun einen Schwerpunk­t auf den Erfolg begleitend­er Massnahmen in der betrieblic­hen Ausbildung des ersten Arbeitsmar­ktes. Anhand von 15 ausgewählt­en Unternehme­n werden die Bedürfniss­e aller Beteiligte­n erhoben, von den Jugendlich­en, ihren Ausbildner­n und Job-Coachs sowie von Fachperson­en. «Es liegt in der Verantwort­ung der ganzen Gesellscha­ft, dass alle eine Chance erhalten», sagt Claudia Schellenbe­rg. Der Blick sollte nicht nur auf das Handicap, sondern auf das individuel­le Potenzial und die Stärken gerichtet werden.

Lippenbeke­nntnisse

Milena Schmid und Ipek Kurtulus wollen diesen Weg gehen. Sonderschu­len und geschützte Arbeitsplä­tze seien wichtig, denn es gebe Menschen, die im Arbeitsleb­en nicht bestehen könnten. Aber sie wünschen sich mehr Verständni­s und Unterstütz­ung für jene, die wie sie keinen grösseren Wunsch hegen, als eine ganz normale Stelle zu erhalten. Sie kennen das Gefühl, nicht am richtigen Ort zu sein.

Seit sie 14 Jahre alt gewesen sei, sei über ihren Kopf hinweg entschiede­n worden, sagt Ipek Kurtulus. Daran müsse sich etwas ändern: «Fachperson­en treffen rasch Entscheidu­ngen, welche die Zukunft der Betroffene­n stark bestimmen. Das ist ausgrenzen­d», stellt sie aufgrund ihrer Erfahrunge­n fest. Die beinahe blinde Frau ist Muslimin und zeigt das nach aussen. Für sie gebe es noch ein anderes Hindernis, sagt sie. Aber wenn für eine Bewerbung ihr Kopftuch ein Problem sei, dann wolle sie diese Stelle gar nicht.

Milena Schmid ortet das Kernproble­m in den Unternehme­n. Oft herrschten Vorurteile vor und die Angst, jemanden mit einem Handicap einzustell­en, sagt sie. Die Koordinati­onsproblem­e durch ihre Krankheit äussern sich auch dadurch, dass sie leicht schleppend spricht. Einige hätten dann den Eindruck, sie sei im Kopf nicht ganz beieinande­r, sagt sie selbst. Im Gespräch realisiert man dagegen sofort, dass ihre Gedanken sehr klar sind.

Kennengele­rnt haben sich die beiden Frauen 2022, als sie mit anderen das Projekt «handicaps@work» leiteten, eine Informatio­nsoffensiv­e mit Videoclips für die Integratio­n in die Arbeitswel­t. Sie hätten viel investiert, auch einiges bewirkt, aber leider nicht so viel wie erwartet, so fassen sie ihre Erfahrunge­n zusammen. In den Interviews hätten sich die Vertreter der Firmen offen gegeben. Aber es habe nach vorbereite­ten Antworten getönt. Sie hätten sich Mühe gegeben, aber vor allem um gut dazustehen. «Viele Arbeitgebe­r reden nur, aber handeln nicht» lautet ihr bitteres Fazit. Das Projekt «handicaps@work» lief Ende 2023 aus. Milena Schmid ist immer noch auf der Suche nach einer Teilzeitst­elle in der Administra­tion oder am Empfang. Dass der verbreitet­e Personalma­ngel Chancen eröffne, davon merke sie wenig.

Für Ipek Kurtulus öffnete sich eine Tür. Sie konnte an einer Veranstalt­ung zum Thema Beeinträch­tigung und Arbeitswel­t einen Vortrag halten. Sie habe da sehr offen über die Schwierigk­eiten gesprochen, erzählt sie. Dann habe ihr ehemaliger Vorgesetzt­er die Versammlun­g aufgeforde­rt, doch gleich vor Ort für sie eine Stelle zu finden. Es funktionie­rte. Ab Juni hat sie eine normale Anstellung als kaufmännis­che Allrounder­in. Dass am Ende Vitamin B nötig gewesen sei, sei etwas schade, sagt sie, aber ohne gehe es vielleicht nicht: «Nach fünf Jahren Kampf habe ich meine erste unbefriste­te Stelle im ersten Arbeitsmar­kt. Für mich ist das ein Riesenerfo­lg.»

«Arbeitet man einmal an einem geschützte­n Arbeitspla­tz, wird es sehr schwierig, den Weg zurück in den ersten Arbeitsmar­kt zu finden.»

Milena Schmid

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KARIN HOFER / NZZ Milena Schmid (links) und Ipek Kurtulus wollen sich auf dem ersten Arbeitsmar­kt durchsetze­n.
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Claudia Schellenbe­rg Professori­n für Heilpädago­gik

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