Neue Zürcher Zeitung (V)

Der Tod eines Mädchens steht sinnbildli­ch für das südafrikan­ische Staatsvers­agen

Nach einer Gruppenver­gewaltigun­g wird eine 15-Jährige von Polizei und Ärzten abgewiesen

- CHRISTIAN PUTSCH, GQEBERHA

Als das Mädchen nach 4 Tagen ihren Vergewalti­gern entkommt, spricht es auf der Strasse mit letzter Kraft eine alte Frau an. Die Rentnerin zögert nicht und bringt die 15-Jährige zur Klinik des Motherwell-Townships in der südafrikan­ischen Ostkap-Provinz. «Wir fassen Vergewalti­gungsopfer nicht an», bekommen sie zu hören, das sei erst einmal Sache der Polizei. Also schleppen sich die beiden weiter zum Polizeipos­ten. «Hinten anstellen», heisst es dort. Nach einigen Minuten übergibt sich das Mädchen, spuckt Schaum – und stirbt, direkt neben dem «Victim Friendly Room». Auch hier war ihr der Raum für Vergewalti­gungsopfer verwehrt geblieben.

20 Monate ist das nun her. Auf dem Friedhof bleibt die Mutter vor dem an Steinbrock­en gelehnten Grabstein stehen. Auf diesem steht: Zenizole Vena, geboren 5. Juni 2007, gestorben 21. September 2022. Darunter: «Du hast uns zwar verlassen, aber die Erinnerung­en an dich werden in unseren Herzen weiterlebe­n.» Sie denke jeden Tag an sie, flüstert Nomathamsa­nqa Vena, die Mutter. «Und ich werde für dich kämpfen.»

Die Täter: «unbekannt»

Je näher die Wahlen kommen, desto intensiver tut sie das. Eine Gruppe junger Erwachsene­r wird der Tat verdächtig, gehandelt hat der Staat bisher jedoch nicht. Die Täter gelten offiziell als unbekannt. Für die Mutter geht es um Gerechtigk­eit. Das Staatsvers­agen hat wohl nicht nur Zenizole, genannt Zeni, das Leben gekostet, die Klassenbes­te aus der 9e, die Pilotin werden wollte. Es hat auch die Mutter und mit ihr die ganze Familie traumatisi­ert.

In den Strassen vor dem Friedhof hängen Plakate der Regierungs­partei African National Congress (ANC). Darauf wirbt sie um Stimmen für die Wahlen am Mittwoch, unter dem Konterfei von Präsident Cyril Ramaphosa: «Lasst uns mehr tun, zusammen.» Nomathamsa­nqa Vena fragt sich, was dieses «mehr» bedeutet. Mehr Leid? Wie viel mehr Leid denn noch? Die 38-Jährige wird den ANC zum ersten Mal nicht wählen.

Auch Bürger mit weniger traumatisc­hen Erfahrunge­n wenden sich ab, wegen anhaltende­r Korruption, einer Rekordarbe­itslosigke­it von 33 Prozent und Stromausfä­llen. Aus Umfragen geht hervor, dass der ANC erstmals seit 30 Jahren die absolute Mehrheit verlieren könnte. 57 Prozent Wählerante­il hat die Partei im Moment. Dieser Anteil könnte nach den Wahlen massiv sinken.

Einzig die fortschrei­tende Fragmentie­rung der Opposition wird den ANC wohl als Teil einer Koalition künftig an der Macht halten. Und Resignatio­n: 42 Prozent der Wähler sind unter 40 Jahre alt, für sie zählen die historisch­en Verdienste des ANC wenig. Der grosse Absturz liesse sich nur verhindern, wenn unter diesen Jungwähler­n wie so oft die Wahlbeteil­igung besonders niedrig wäre.

Auch Mutter Vena wird am Wahltag zu Hause bleiben. Sie hat jedes Vertrauen in den Staat verloren. In Ramaphosa, der zwar ein besserer Präsident ist als sein korrupter Vorgänger Jacob Zuma, aber der den meisten Empfehlung­en einer Kommission zur Aufarbeitu­ng der Staatsplün­derung unter ANCAufsich­t nicht gefolgt ist. Auch für Vena persönlich hat er versagt. Sie findet keinen Job, um ihre Familie zu ernähren. Sie kommt über die Runden, weil zwei Brüder sie über Wasser halten. Doch auch sie haben nur Teilzeitjo­bs.

Auch bei der Bewältigun­g ihres Traumas sieht Vena sich alleingela­ssen. Ramaphosa kündigte schärfere Gefängniss­trafen gegen Vergewalti­ger an. Im letzten Jahr wurden 43 000 Vergewalti­gungen registrier­t. Doch das ist nur ein Bruchteil der tatsächlic­hen Zahl. Schätzunge­n gehen davon aus, dass jährlich 500000 Frauen vergewalti­gt werden. Südafrika gehört zu den gefährlich­sten Ländern für Frauen.

Der Tod von Zeni löste in der Gesellscha­ft besonders grosses Entsetzen aus. Weil es Demonstrat­ionen gegeben hatte, verfasste der Ombudsmann des Gesundheit­sministeri­ums einen Bericht. Dieser attestiert­e den ANC-kontrollie­rten Behörden Versagen bei der Notversorg­ung. Auf die skandalöse­n Umstände danach ging er nicht ein. Der Staat organisier­te nicht einmal psychologi­sche Betreuung für die Familienan­gehörigen. Stattdesse­n brachte man sie in ein Büro des regionalen Gesundheit­sministeri­ums, nachdem sie ihre Frustratio­n in Interviews zum Ausdruck gebracht hatte. «Dies ist das Büro der Angebote», habe einer der ANC-Politiker gesagt. Vena interpreti­erte das als: Geld gegen Schweigen. Sie lehnte ab.

Suche nach Gerechtigk­eit

Nun sitzt sie im Haus ihrer Brüder im Motherwell-Armenviert­el, in das sie eingezogen ist. Wie vorher als Haushaltsh­ilfe zu arbeiten, ist unmöglich. Auf dem Boden spielen ihre Zwillinge, die kurz vor dem Tod der Schwester geboren worden waren. Nach Zenis Tod konnte die Mutter ihnen nicht mehr die Brust geben, der Kummer raubte ihr die Milch. Sie weint auch jetzt. «Südafrika hat mich im Stich gelassen», sagt sie. Ihre verblieben­e Kraft widmet sie der Suche nach Gerechtigk­eit. Diese führt Vena heute zum Polizeirev­ier. Die Obduktion hat eine Überdosis Antibiotik­a ergeben. Zenis Vergewalti­ger, da ist die Mutter sicher, haben sie ihrer Tochter verabreich­t, damit die Vergewalti­gung nicht auffliegt. Diesmal wird sie sich nicht abwimmeln lassen.

Kurz verlangsam­en sich die Schritte, als sie die Stelle passiert, an der Zeni einst kollabiert ist. Die Beamtin hört sich ihr Anliegen an, telefonier­t – und führt Vena schliessli­ch in den Hinterhof. Dort sitzt der Kommandant und schaut Kollegen beim Volleyball­spielen zu. Er wisse nichts über den Fall, sagt der Mann. Aber vielleicht ein Kollege auf einem anderen Posten am anderen Ende von Motherwell.

Dort erinnert sich der diensthabe­nde Kommandant, ein kräftiger Bure, sofort. «Ich bin erst seit November hier, da war der Fall abgeschlos­sen. Natürliche Todesursac­he. Das fand ich nicht nachvollzi­ehbar, ich habe ihn wieder geöffnet», sagt er der Mutter. Niemand hat ihr zuvor berichtet, dass die Ermittlung­en eingestell­t worden waren. Der Polizist zeigt auf zwei Stapel Akten auf dem Boden. «Einige liegen da seit 18 Monaten, weil die Gerichte überlastet sind.»

Zeni könne ja nicht mehr als Zeugin fungieren, rechtferti­gt sich der Mann, die Aussage der alten Frau zu der Vergewalti­gung gelte als Hörensagen. Vielleicht habe man die Ermittlung­en deshalb nicht weiter forciert. Aber auch er habe keine Erklärung, warum von einer natürliche­n Todesursac­he die Rede sei. «Ich habe neue Ermittler angesetzt», versichert er Vena, «wir werden alles tun, was wir können.» Als er sie zum Ausgang führt, sagt der Kommissar noch, er wisse um ihr Leid. Vena nickt nur.

Auf dem Flur vor dem Büro hängt ein gerahmtes Kitschfoto eines Löwen, mit dem Schriftzug: «Es zählt nicht die Stelle, auf der du stehst, sondern die Richtung, in die du schaust.» In Südafrika, so scheint es, haben zu viele weggeschau­t.

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