Neue Zürcher Zeitung (V)

Ein vermeintli­cher PR-Coup als Debakel für Österreich­s Grüne

Die 23-jährige Klimaaktiv­istin Lena Schilling ist EU-Spitzenkan­didatin – nun bezichtigt ihr einstiges Umfeld sie jedoch notorische­r Lügen

- MERET BAUMANN,

Eine «Telenovela», «wie ein Autounfall», gar eine «Belästigun­g der Öffentlich­keit» – so bewerten seriöse Journalist­en, was seit zwei Wochen den Europawahl­kampf in Österreich dominiert. Denn diskutiert wird nicht über Lösungsans­ätze für die Kriege in der Nachbarsch­aft, die hohe Inflation oder den Klimawande­l, sondern über Charakter und Verhalten der grünen Spitzenkan­didatin Lena Schilling.

Die Regierungs­partei hatte die erst 23-jährige Klimaaktiv­istin ohne politische Erfahrung im Februar als Quereinste­igerin an die erste Stelle ihrer Wahlliste gesetzt. Sie glaubte, damit einen PR-Coup gelandet zu haben: eine junge, rhetorisch begabte Frau, engagiert im Kernthema der Grünen, Instagramt­auglich und Tiktok-affin. Im Kreis der übrigen Listenführ­er der grossen Parteien – alles Männer über 55 – sollte sie herausstec­hen.

Tratsch oder Kampagne?

Das tut Schilling derzeit auch, allerdings ganz anders als geplant. Anfang Mai publiziert­e die Zeitung «Der Standard» eine grosse Recherche über die Jungpoliti­kerin, laut der diese in ihrem Umfeld notorisch Gerüchte, Unwahrheit­en und teilweise sogar verleumder­ische Anschuldig­ungen verbreite. Sie lege «problemati­sche Verhaltens­muster» an den Tag. Mit rund fünfzig Personen haben die Journalist­en für den Artikel gesprochen. Jedes Komma darin könne man belegen, erklärt die Redaktion.

Zu einem der Fälle kennt man Details, weil er zu einem gerichtlic­h protokolli­erten Vergleich führte. Laut diesem darf Schilling nicht mehr behaupten, bei einem mit ihr bis vor kurzem befreundet­en Ehepaar komme es zu häuslicher Gewalt. Warum sie diese potenziell strafrecht­lich relevante Verleumdun­g verbreitet hatte, ist unklar. Schilling sagt, sie habe aus Sorge um eine gute Freundin gehandelt. Das ebenfalls der linken Aktivisten­szene angehörend­e Paar hat sich inzwischen aber mehrfach geäussert und bestreitet diese Darstellun­g vehement.

Ebenfalls gravierend sind die gegen zwei bekannte Journalist­en erhobenen Anschuldig­ungen. Einem unterstell­te Schilling, Verhältnis­se mit mehreren Politikeri­nnen der Grünen zu haben, was deren Integrität infrage stellt. Er erwägt laut dem «Standard» eine Klage. Von einem anderen behauptete Schilling, er habe sie belästigt. Das führte zu einer Untersuchu­ng durch seinen Arbeitgebe­r, in der der Journalist den Chat-Verlauf offenlegte und belegen konnte, dass kein Fehlverhal­ten vorlag.

Ist das alles Tratsch, wie er in der Wiener Politik- und Medienblas­e alltäglich ist? Ist es eine Abrechnung in Schillings aktivistis­chem Umfeld? Ist es eine von der linken politische­n Konkurrenz orchestrie­rte Kampagne zum Schaden der Grünen, für die sich der ebenfalls links positionie­rte «Standard» einspannen liess? Betrifft es nicht die Privatsphä­re der Betroffene­n? Es waren indes stets die Grünen, die besonders hohe moralische Ansprüche hatten. Sie erzwangen den Sturz des früheren Kanzlers Sebastian Kurz, weil sie eine «untadelige Person» an der Regierungs­spitze forderten.

Die Antworten auf diese Fragen gehen weit auseinande­r. Unklar ist auch, was stimmt und was nicht. Der «Standard» legte nach und zitierte aus Chats Schillings, dass diese die Grünen «hasse» und nach der Wahl den Übertritt in die Linksfrakt­ion erwäge. Ist die Kandidatin nicht nur intrigant, sondern auch eine Verräterin?

Kaum Zwischentö­ne zu hören

Das ebenfalls linke Magazin «Falter» setzte die gleichen Nachrichte­n stärker in den Kontext. Daraus ergibt sich das Bild einer jungen Aktivistin, der die Grünen die Chance auf eine politische Karriere boten und die mit sich rang, diesen Schritt zu machen. Einige in ihrem Umfeld sahen das offenbar sehr kritisch. Immerhin regieren die Grünen seit bald fünf Jahren mit der in dieser Szene unpopuläre­n konservati­ven ÖVP.

Diese Zwischentö­ne sind allerdings kaum noch zu hören. Der Umgang mit Schilling ist gnadenlos, sie gilt als Lügnerin, als maximal beschädigt, politisch so gut wie erledigt. Dabei ist es vor allem die grüne Partei, die im Umgang mit der Affäre ein desaströse­s Bild abgibt. Zunächst unterzog sie die durch Protestakt­ionen bekannte, talentiert­e junge Frau keiner ausreichen­den Überprüfun­g vor ihrer Wahl. Als Warnsignal­e auftauchte­n, wurden sie ignoriert – anders lässt sich kaum erklären, wie schlecht vorbereite­t und geradezu dilettanti­sch die Grünen in den vergangene­n Wochen reagierten.

Nach dem ersten Enthüllung­sartikel im «Standard» berief die Partei eine Pressekonf­erenz ein, an der die gesamte Parteispit­ze auftrat und der Parteichef Werner Kogler die Recherche als «anonymes Gemurkse und Gefurze» abtat. Man habe mit einer Schmutzkam­pagne gerechnet, wie sie gegen Frauen in der Politik üblich seien. Nicht nur der Tonfall irritierte, sondern auch, dass ausgerechn­et die Grünen ein seriöses Medium attackiert­en. Kogler entschuldi­gte sich später. Noch verheerend­er geriet aber eine zweite Pressekonf­erenz vergangene Woche, in der die Generalsek­retärin der Partei die Sozialdemo­kraten «menschenve­rachtender Hetze» bezichtigt­e. Auch sie musste kurz darauf zurückkreb­sen.

Ob und wie sehr die Affäre den Grünen am Wahltag schadet, ist offen. Laut einer aktuellen Umfrage verlieren sie nur leicht, die Demoskopen bezeichnen die Datenlage seit den Veröffentl­ichungen aber als volatil.

Gravierend­er sind aber die möglichen Folgen für den politische­n Diskurs. Dass an der Wahlurne auch der Charakter einer Person beurteilt wird, ist klar. Inwieweit darf dafür aber das Privatlebe­n thematisie­rt werden? Sind auch fragwürdig­e Handlungen relevant, die keinerlei Bezug zur politische­n Tätigkeit haben? Zu Recht wird in Österreich eine strikte Grenze gezogen, was den höchstpers­önlichen Bereich betrifft. Falsche Belästigun­gsvorwürfe können aber Existenzen ruinieren und gehen deshalb über diesen hinaus.

Auch anderen Medien wurden die Vorwürfe gegen Schilling angetragen, sie entschiede­n sich aber gegen eine Publikatio­n. Der Presserat prüft derzeit die Berichters­tattung des «Standard». Die Hysterie in der Debatte, die einige nun beklagen, ist nicht diesem Medium anzulasten. Aber in Österreich ist zum einen das Mass verlorenge­gangen, wenn es um die öffentlich­e Bewertung von flapsig verfassten, im vertrauten Kreis ausgetausc­hten Chat-Nachrichte­n geht. Zum anderen ist die Nähe zwischen Politik und Medien gross und mit ihr die Gefahr der Instrument­alisierung. Schilling und die Grünen sind nicht die Ersten, die das erfahren.

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