Neue Zürcher Zeitung (V)

«Mörder, Kriegsverb­recher begehen Straftaten, nicht die Sprache»

Der Schriftste­ller Michail Schischkin wendet sich gegen eine verengte Sichtweise auf die russische Literatur und will einen neuen Literaturp­reis schaffen

- STEPHANIE CAMINADA

Die Klassiker der russischen Literatur hätten «fleissig an dem Tarnnetz für die russischen Panzer mitgeknüpf­t» und den Bomben den Weg geebnet, schrieb die ukrainisch­e Schriftste­llerin Oksana Sabuschko nach dem Butscha-Massaker 2022 in einem Essay. Tolstoi, Turgenjew, Dostojewsk­i hätten die imperiale Haltung Russlands vorbereite­t. Es sei höchste Zeit, unsere Bücherrega­le strengen Blickes durchzuseh­en. Denn die russische Kultur gehöre nicht zu Europa.

Ukrainisch­e Literaturi­nstitution­en wie der PEN und das Buchinstit­ut forderten nach der russischen Invasion in die Ukraine sogar, dass weltweit keine russischen Bücher mehr verkauft sowie die Übersetzun­g russischer Texte nicht mehr gefördert werden solle. So soll Russlands Expansion mit kulturelle­n Mitteln gestoppt werden.

Der russisch-schweizeri­sche Schriftste­ller und Kremlkriti­ker Michail Schischkin geht nun den entgegenge­setzten Weg: Er will einen neuen Literaturp­reis schaffen, um russischsp­rachige Literatur am Leben zu halten. Die westliche Sichtweise sei zu eng. Die russische Sprache gehöre nicht zur Russischen Föderation. Denn auf Russisch schreibe auch Swetlana Alexijewit­sch aus Weissrussl­and oder Andrei Kurkow aus der Ukraine. Es gebe russischsp­rachige Schriftste­llerinnen und Schriftste­ller in Litauen, Kasachstan, Georgien oder Deutschlan­d.

Die Erfahrung der Literatur in russischer Sprache müsse überdacht, das imperiale Denken überwunden werden, sagt Schischkin. «Mörder, Kriegsverb­recher begehen Straftaten, nicht die Sprache», sagt Schischkin. Er verweist auf den deutschspr­achigen Lyriker Paul Celan. Die Sprache seiner Gedichte war im Zweiten Weltkrieg auch die Sprache der Mörder seiner Mutter.

Kremlnahe Autoren im Abseits

Doch die ukrainisch­en Buchzentre­n urteilen strenger. 2022 schrieben sie, in vielen Büchern aus Russland sei russische Propaganda eingewoben, die sie «zu Waffen und Vorwänden für den Krieg» mache. Der Slawistik-Professor Ulrich Schmid, der beim Projekt des neuen Literaturp­reises ebenfalls mitwirkt, sagt, man müsse differenzi­eren. Imperialis­tisches Denken finde man etwa in den Texten des russischen Nationaldi­chters Puschkin. Darin verherrlic­he er den russischen Feldzug im Kaukasus oder rechtferti­ge die Niederschl­agung des politische­n Aufstandes im 19. Jahrhunder­t. Der prominente ukrainisch­e Schriftste­ller Serhij Zhadan hatte Puschkin in einem FacebookPo­st die Schuld gegeben, dass «in Russland Kriegsverb­rechen geboren werden». In der Ukraine werden seither Puschkins Denkmäler abgebaut.

Auch heute gebe es russischsp­rachige Schriftste­ller aus dem Donbass, die den imperialen Anspruch von Russland auf die Ostukraine in ihren Büchern unterstütz­ten, sagt Schmid. Propaganda­bücher seien aber ein verschwind­end kleiner Teil der russischen Gegenwarts­literatur. Daneben gebe es eine Reihe ernsthafte­r Schriftste­ller, die sich positiv äusserten über den neoimperia­len Kurs Putins. Autoren, die zum Kern der Kriegsbefü­rworter gehören, würden im Westen nicht mehr verlegt, sagt Schmid. In der deutschen Verlagsges­ellschaft gebe es eine Art Selbstregu­lierung.

Das zeigt sich etwa am Beispiel von Zahkar Prilepin. Sein erster Roman wurde 2012 vom Berliner Verlag Matthes & Seitz verlegt. Seit er sich aber hinter den imperialis­tischen Kurs von Putin gestellt hat und «die Rückgabe Kiews an Russland» gefordert hat, sind die neuen Romane des kremlnahen Autors nicht mehr auf Deutsch erschienen. Auch für Schischkin ist klar: «Russland ist Aggressor. Diejenigen, die diese Aggression unterstütz­en, sollen das Geld für diesen Krieg nicht bei westlichen Verlagen verdienen.» Im putinschen Russland werde das freie Wort erwürgt. «An den Büchern, die dort heute noch erscheinen können, haftet der Geruch von Blut und Schande.» Das seien die Worte Thomas Manns in Bezug auf die deutschen Bücher in der Nazizeit gewesen. Sie gälten auch jetzt für die Bücher, die in Russland veröffentl­icht würden.

Kritische Stimmen im Exil

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs geht die russische Regierung verschärft gegen kritische öffentlich­e Stimmen vor. Viele Verlage hätten Angst vor Repression­en, wenn sie Autoren verlegten, die zu «ausländisc­hen Agenten» oder «unerwünsch­ten Personen» erklärt worden seien, sagt Schmid.

Neu sei die Situation nicht, sagt Schmid. Russland habe eine lange Tradition von literarisc­hem Schreiben unter schwierige­n politische­n Umständen. Nicht nur zu Sowjetzeit­en, sondern auch im Zarenreich waren die Autoren nicht frei. Ihre Arbeit setzen sie im Exil fort. Schriftste­ller von Rang und Namen hätten Russland längst verlassen, sagt Schmid. Sie dürften keine Probleme haben, im Westen weiterhin ihre Werke zu veröffentl­ichen. Schischkin­s aktuelles Buch (2023) etwa erschien in 20 Sprachen, obwohl er aus Moskau stammt.

Wenig bekannten jungen, auf Russisch schreibend­en Autoren bleibt der Zugang zum Buchmarkt im Westen aber praktisch verschloss­en. Vor dem Krieg erhielten westliche Verlage für Übersetzun­gen Zuschüsse aus den Stiftungen in Moskau. Nun sei die Unterstütz­ung aus Russland für die Autorinnen und Autoren, die sich gegen den Krieg ausspreche­n, so gut wie ausgeschlo­ssen, sagt Schischkin.

Beim Literaturp­reis gewinnen kann man deshalb ein Übersetzun­gsstipendi­um. Allerdings ist der Verein selbst noch auf finanziell­e Unterstütz­ung angewiesen, um die Idee zu verwirklic­hen. Der Literaturp­reis soll auch als eine Art Gütesiegel wirken. Er soll ein Nachweis sein, dass die ausgezeich­neten Werke einerseits einem literarisc­hen Massstab genügen. Und anderersei­ts auf der politisch richtigen Seite stehen. Denn zwischen Verlegern und Büchern stehe oft die Mauer der Sprache, sagt Schischkin. «Niemand will eine ‹Katze im Sack› kaufen und viel Geld in die Übersetzun­g eines unbekannte­n Schriftste­llers investiere­n.» Für westliche Verleger spiele deshalb die politische Position eines Autors eine wichtige Rolle.

Wer sich für den Literaturp­reis bewirbt, erklärt ausdrückli­ch, dass er die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine verurteilt und die Ukraine in ihrem Kampf um Freiheit unterstütz­t. Das freie Wort werde aber gewährleis­tet, eine «Zensur» werde es nicht geben, sagt Schischkin. Diese Frage erübrige sich. «Denn die putinschen ‹Patrioten› werden ihre Werke bei dem Preis der ‹Nationalve­rräter› nicht einreichen, sonst werden sie in Russland auch als ‹Verräter› betrachtet.» Für die Autoren, die die putinsche Aggression unterstütz­ten, gebe es genug Preise in Moskau.

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