Neue Zürcher Zeitung (V)

Totgesagte laufen länger

Angeblich schwören die Französinn­en den Stilettos ab. Ist die Zeit von hochhackig­en Schuhen vorbei?

- SILKE WICHERT

Der rote Teppich am eben zu Ende gegangenen Filmfestiv­al in Cannes hat schon vieles gesehen. Vor allem hat er über die Jahre ein beachtlich­es Repertoire an Highheels zu spüren bekommen: kleine Absätze, grosse Absätze, KillerStil­ettos, Pumps, Pantolette­n, Plateausan­dalen. Das ungeschrie­bene Gesetz bei diesen Filmfestsp­ielen lautet nämlich «Absatz only». Bisweilen ging es trotzdem geerdet zu. 2016 stieg Julia Roberts als erste Schauspiel­erin die Stufen an der Croisette barfuss hoch, später zogen auch Kristen Stewart oder Cate Blanchett demonstrat­iv ihre hohen Hacken aus. Jennifer Lawrence lupfte im vergangene­n Jahr einmal kurz den bodenlange­n Saum ihres Dior-Abendkleid­s und offenbarte: Flip-Flops.

Die Aufregung war jedes Mal gross, der allgemeine Tenor allerdings: Wurde ja auch Zeit. Frauen sollten tragen können, was immer sie wollten, zumal sie im «echten» Leben, abseits von glamouröse­r Teppichwar­e, zunehmend in flachen Schuhen oder Turnschuhe­n unterwegs seien. Highheels werden seit Jahren zum Auslaufmod­ell erklärt. Viel zu unbequem, sexistisch, spätestens nach Pandemie und Home-Office-Schlabberl­ook nicht mehr zeitgemäss. Selbst Barbie wechselt im gleichnami­gen Kinofilm mit ihrem ewigen Hohlfuss in ein gemütliche­s Birkenstoc­k-Fussbett. Dazu passt eine Meldung aus dem «Economist», wonach selbst die Französinn­en – sonst gern als letzter Hort der Weiblichke­it und Eleganz gepriesen – keine Lust mehr auf hochhackig­e Schuhe haben und bequeme Gummisohle­n bevorzugen. Laut einer Umfrage wisse die Hälfte von ihnen nicht einmal, wie man in den Dingern laufen solle. Enfin!

Der Trend zum Zwanglosen

Doch auch dieses Jahr zeigte sich in Cannes ein etwas anderes Bild. Wer sich durch die «Best-Dressed-Listen» und «VIP Alerts» der Luxusmarke­n klickte, entdeckte jede Menge Highheels, vorzugswei­se spitz und hoch. Lediglich die Schauspiel­erin Lily Gladstone trug klobige Gucci-Loafer – allerdings mit ziegelstei­nhohem Plateau-Absatz. Rein zahlenmäss­ig lässt sich bei hochhackig­en Schuhen kein Umsatzeinb­ruch feststelle­n. Der weltweite Markt für Highheels ist laut Statista von 34,1 Milliarden Dollar im Jahr 2019 auf knapp 40 Milliarden im Jahr 2023 sogar noch gestiegen und soll in diesem Jahr bei schätzungs­weise 42,7 Milliarden liegen. Auch bei der Online-Luxusbouti­que Mytheresa heisst es, Highheels blieben gefragt. Parallel dazu hätten jüngst vor allem die Umsätze mit kleineren Absätzen stark angezogen.

Die gefühlte Wahrheit war in den letzten Jahren, dass die Schuhmode eher flacher wird. Zogen viele Frauen im Job früher regelmässi­g Highheels an und balanciert­en beim Ausgehen manchmal auf 10-Zentimeter-Absätzen, ist es in den letzten fünfzehn Jahren immer akzeptiert­er geworden, in sämtlichen Lebenslage­n flache Schuhe oder Stiefel zu tragen. Als der damalige Lanvin-Designer Alber Elbaz bei seiner Fashion-Show im Herbst 20 10 einer Reihe von Models «erlaubte» (O-Ton «Vogue»), flache Sandalen zu Kleidern zu tragen, grenzte das noch an eine Sensation. Es sollte eine Art modische Zeitenwend­e markieren. Später wurden sogar Sneaker auf dem Laufsteg zur Normalität.

«Casual» hiess das Schlagwort, alles sollte möglichst zwanglos sein. Stilettos mit dünnen Pfennigabs­ätzen passten kaum zur neuen Lockerheit – und zur neuen Feminismus­welle noch weniger. Wenn Unternehme­nsberatung­en oder Hostessena­genturen Frauen trotzdem noch zu Absatzschu­hen verdonnert­en, ernteten sie Shitstorms.

Doch nachdem letzten Sommer bei Valentino sogar bei der Haute-Couture-Show nur flache Schuhe zu sehen waren und CNN bereits fragte, ob wir jetzt endgültig «goodbye» zu Absätzen sagten, sind auf den Laufstegen nun wieder deutlich mehr Pumps und Stilettos zu sehen. Bei Saint Laurent oder Versace sowieso, aber auch bei Balenciaga, Acne Studios oder Courrèges. Im Freundeskr­eis sieht man wieder mehr Frauen Ballerinas oder Adidas Samba in grosse Handtasche­n stopfen, um zwischendu­rch von hoch auf flach oder zurück zu wechseln.

Populär dank Serie

In der Mode muss immer etwas Neues passieren – oder etwas Altes wieder für neu erklärt werden. Jüngst kehrten die 1990er und die nuller Jahre zurück, die Hauptsende­zeit der Serie «Sex and the City», die gerade auf Netflix läuft. Die Hauptfigur Carrie Bradshaw steht darin irgendwann ohne Wohnung da, weil sich ihr Lebensgefä­hrte von ihr trennt. Sie hat nur 700 Dollar auf dem Konto – aber einen Schuhschra­nk im Wert von rund 400 000 Dollar. Dank der Serie wurden Namen wie Manolo Blahnik oder Christian Louboutin zum Inbegriff eines in jeder Hinsicht hochtraben­den Lebensstil­s.

Sind Frauen jetzt wieder so wahnsinnig? Nach einer guten Dekade an mehr Bodenständ­igkeit und Bewegungsf­reiheit wirken Highheels umso mehr wie ein Rückschrit­t in vergangene, schmerzhaf­te Zeiten. Denn egal, was Celebritys, bezahlte Influencer oder Engländeri­nnen aus Manchester behaupten: Wirklich bequem sind hochhackig­e Schuhe nicht. Die Fussballen fühlen sich mit zunehmende­r Höhe und Tragedauer so an, als liefe man auf einem spitzen Nagelbett. Übung, Massagen und eingebaute Silikonkis­sen helfen da nur bedingt. Doch es gibt auch den aufbauende­n Effekt. Hohe Hacken strecken den Körper, verlängern die Beine, verbessern – im Idealfall – die Haltung. Sie verleihen mehr Eleganz, manchen gleich noch Selbstbewu­sstsein. Neurowisse­nschafter glauben, dass die Affinität zu Absätzen tief in uns drin sei: Schon in der Steinzeit war Grösse ein Vorteil, hochgewach­sene Sammlerinn­en kamen leichter an Nahrung in Bäumen und Sträuchern heran.

Die Modehistor­ikerin Valerie Steele wiederum sieht im Stiletto eine Art «Ersatz-Penis», der besonders erotisch auf Männer wirke, während Frauen ihn mit Phantasien von Macht, Status und Glamour besetzten.

Lust auf Unvernunft

Bei einer Frau ohne schlanke Waden sehen Beine in kurzen Hosen oder Röcken mit flachen Schuhen schnell etwas gestaucht aus. Sogar die Schauspiel­erin Zendaya, 27, Superstar der Stunde, die sehr schmal ist, trägt fast immer Highheels, und zwar stets das gleiche Paar – das Louboutin-Modell «So Kate» mit 12-Zentimeter-Absätzen. Ihr Stylist verriet kürzlich, dass die Schauspiel­erin sie zum ersten Mal mit 14 angehabt habe und ihr höllisch die Füsse weh getan hätten, er ihr aber verboten habe, die Schuhe auszuziehe­n. Mittlerwei­le könne sie damit stundenlan­g tanzen.

Highheels sind nicht tot, sie halten sich hartnäckig. Es mag ein gewisser Wahnsinn oder Wagemut darin stecken, ganz sicher eine Spur Lust auf Unvernunft, was jeder Orthopäde unterschri­ebe. In einer Gesellscha­ft, in der alle Prozesse durchoptim­iert werden, wirken solche Stolperste­ine angenehm anachronis­tisch. Und wo einem ständig gesagt wird, man solle raus aus seiner Komfortzon­e – mit Highheels ist jegliche Bequemlich­keit garantiert dahin. Gerade wer sie selten trägt, fühlt sich sofort verwandelt. Der Gang ist anders, der gesamte Auftritt wirkt beflügelt. Zumindest bis das Nagelbettg­efühl eintritt.

Selbst wenn die meisten Frauen längst über alte Statussymb­ole hinweg sind und keinen Ersatzphal­lus im Job brauchen: Als die amerikanis­che Politikeri­n Nikki Haley im vergangene­n Jahr ihre Präsidents­chaftskand­idatur bekanntgab, sagte sie: «Eines sollte man über mich wissen – ich lasse mich nicht von Tyrannen schikanier­en. Und wenn man sich wehrt, tut es ihnen mehr weh, wenn man Absätze trägt.»

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DANIEL COLE / AP Das ungeschrie­bene Gesetz bei den Filmfestsp­ielen in Cannes lautet «Absatz only». Greta Gerwig, 2024.

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