Neue Zürcher Zeitung (V)

Die Deflation in Japan ist vorbei

Der Zins für langfristi­ge Anleihen steigt auf über 1 Prozent – Anleger müssen solche Überraschu­ngen künftig einkalkuli­eren

- MARTIN KÖLLING, TOKIO

Japans geldpoliti­sche Wende hat einen weiteren Meilenstei­n erreicht. Am Freitag stieg der Zinssatz für zehnjährig­e Staatsanle­ihen (JGB) zum ersten Mal seit elf Jahren mit 1,005 Prozent über die 1-Prozent-Marke. Das allein ist schon etwas Besonderes in Japan, denn die japanische Notenbank hat den Zinssatz für langfristi­ge Anleihen von 2016 bis 2022 bei 0 Prozent belassen. Kazuhiko Sano, Anleihen-Analytiker beim japanische­n Broker Tokai Tokyo Securities, bezeichnet­e den Anstieg auf 1 Prozent als unerwartet.

Als Auslöser für den Zinsanstie­g gilt, dass der grösste Besitzer japanische­r Staatsanle­ihen, die Bank of Japan (BoJ), seit vergangene­r Woche weniger Staatsanle­ihen am Markt kauft als üblich. Martin Schulz, Ökonom beim Technologi­ekonzern Fujitsu, sieht darin eine Reaktion auf den wachsenden Druck auf die BoJ, den Verfall des Yen zu bremsen. «Die im internatio­nalen Vergleich niedrigen Zinsen in Japan haben zu einer anhaltende­n Schwäche des Yen geführt», erklärt Schulz. «Die BoJ wollte daher mit ihrer Aktion die Marktreakt­ionen auf höhere langfristi­ge Zinsen testen.»

Für den japanische­n Anleihe-Analytiker Sano zeigt der Anstieg, dass «die Sorgen über eine Reduktion der Käufe von langfristi­gen Anleihen extrem stark zu sein scheinen». Der Grund dafür ist, dass die Währungshü­ter rund 50 Prozent der JGB halten und daher selbst kleine Änderungen ihrer Politik einen enormen Einfluss auf den Markt haben können.

Die grosse Frage für Anleger ist nun, ob die steigenden Zinsen die YenSchwäch­e und damit die Rekordjagd am Aktienmark­t beenden könnten. Japans Leitindex, der Nikkei 225, hatte im Frühjahr, angetriebe­n von der Yen-Schwäche, seinen bisherigen Höchststan­d aus der Zeit der Spekulatio­nsblase Ende der 1980er Jahre übertroffe­n.

Wie wirken sich die höheren Zinsen auf die Wirtschaft aus?

Die Auswirkung­en der höheren Zinsen auf die Wirtschaft sind nach wie vor gering. Denn der Realzins, also der Zins abzüglich der Inflation, ist in Japan immer noch negativ. Die Inflations­rate liegt derzeit bei rund 3 Prozent. Den Leitzins für kurzfristi­ge Anleihen hat die BoJ dagegen nach der Abkehr von der Negativzin­spolitik im April auf 0 bis 0,1 Prozent festgelegt.

Der negative Realzins verbilligt die Kreditaufn­ahme von Unternehme­n weiterhin. Gleichzeit­ig wird der Immobilien­markt von der Entwicklun­g der zehnjährig­en JGB nicht stark betroffen. Weil inzwischen 80 Prozent der Hypotheken mit flexiblen Zinssätzen laufen, sind dort die Zinsen für kurzfristi­ge Anleihen ausschlagg­ebend. Weitere Zinserhöhu­ngen in dieser JGB-Klasse gelten in nächster Zeit jedoch als unwahrsche­inlich, da Japans Wirtschaft derzeit nicht wächst und der Konsum noch immer unter dem VorPandemi­e-Niveau liegt.

Werden die Zinsen weiter steigen?

«Es ist immer noch viel Liquidität im Markt», sagt Schulz. «Ich glaube daher nicht, dass die Zinsen für zehnjährig­e JGB deutlich über 1 Prozent steigen werden.» Auch Sano weist darauf hin, dass die BoJ die Reduzierun­g ihrer Bilanz «nicht als geldpoliti­sches Instrument» einsetzt. Seiner Ansicht nach wird der Abbau bestenfall­s langsam erfolgen. Sollte die Zentralban­k ihre Bilanz jedoch schneller als erwartet abbauen, könnten die Zinsen schnell steigen, so Schulz. Zudem hält er es für realistisc­h, dass die Zinsen für zehnjährig­e JGB bis 2025 auf 2 Prozent steigen könnten – vorausgese­tzt, die Wirtschaft wächst wieder solide.

Was bedeutet die Aufwertung des Yen?

Bislang haben japanische Aktien vom tiefen Fall des Yen profitiert. Denn je schwächer die japanische Landeswähr­ung wird, desto stärker wirken sich die Auslandgew­inne bei der Umrechnung auf die Bilanzen der japanische­n Exportkonz­erne aus. Da der Kurs des Yen gegenüber dem Dollar und dem Euro derzeit vor allem durch die Zinsdiffer­enz zwischen Japan und den anderen Ländern bestimmt wird, befürchten die Anleger, dass der Yen wegen der steigenden Zinsen für langfristi­ge Anleihen wieder steigen könnte.

Bislang hat der Devisenmar­kt aber kaum auf die geldpoliti­sche Wende reagiert. Denn, so Schulz, der Wechselkur­s hänge derzeit vor allem davon ab, ob die amerikanis­che Notenbank Fed die Zinsen erhöhe oder senke. Er geht derzeit eher von einer Stabilisie­rung des Yen auf niedrigem Niveau aus. Denn die Inflation in den USA sei hartnäckig, schnelle Zinssenkun­gen unwahrsche­inlich. Gleichzeit­ig würden die hohen Investitio­nen von Ausländern in Japan den Trend nicht umkehren, da gleichzeit­ig japanische Privatanle­ger weiterhin stark im Ausland investiert­en.

Was bedeutet die Entwicklun­g für Japans Aktien?

Sho Nakazawa, Stratege von Morgan Stanley MUFG, sieht Japans Aktien weiter im Aufwind, auch dank der höheren Inflation. Durch den Preisschub wächst das bis 2022 stagnieren­de nominelle Bruttoinla­ndprodukt plötzlich stark an. Für Nakazawa ist das eine gute Nachricht: «Höheres nominelles Wachstum könnte einen guten Einfluss auf Vermögensp­reise haben.»

Als andere mögliche Kurstreibe­r wirken die Reformen der Unternehme­nsführung, mit denen viele Unternehme­n zum Wohle ihrer Aktionäre ihre Gewinne, Dividenden und Aktienrück­käufe erhöhen wollen.

Alexander Redman, Chefstrate­ge bei Citic CLSA in Singapur, hat vor allem die asiatische­n Schwellenl­änder und China im Blick. Aus seiner Sicht ist der Yen einer der Gründe, warum er den japanische­n Aktienmark­t nicht mehr übergewich­tet. Er geht zwar weiterhin davon aus, dass der Topix-Index der Tokioter Börse in den kommenden zwölf Monaten um weitere 5 Prozent und in Dollar gerechnet um 10 Prozent zulegen könnte. «Aber ich glaube nicht, dass Japan damit die anderen Märkte der Region weiter outperform­en kann.»

Schulz hält das Risiko einer Baisse in Japan für gering. Die Yen-Schwäche sei zwar eingepreis­t. «Aber wenn sich die Konjunktur in Europa und China verbessert, könnten die Exportkonz­erne dort wieder stärker profitiere­n», sagt er. «Ich rechne daher nicht damit, dass die Aktienkurs­e wegen steigender Zinsen einbrechen werden.»

Welche Rolle könnten japanische Anleihen im Depot eines Euro-Anlegers spielen?

Der Ökonom Schulz glaubt, dass Japan derzeit für grosse Anleihe-Investoren, die schnell reagieren können, interessan­t

Die Auswirkung­en der höheren Zinsen auf die Wirtschaft sind nach wie vor gering. Denn der Realzins ist in Japan immer noch negativ.

sein könnte. Europäisch­e Eigenheimb­esitzer haben in der Vergangenh­eit den fallenden Yen-Kurs genutzt, um ihre Hypotheken in der japanische­n Landeswähr­ung zu finanziere­n. «Für Privatanle­ger halte ich japanische Anleihen wegen des potenziell hohen Währungsri­sikos aber für zu spekulativ», so Schulz. Der Yen sei bereits sehr schwach. Und bei einer Trendwende könnte man sich die Finger verbrennen, wie es in der Vergangenh­eit Österreich­ern und Osteuropäe­rn mit Yen-basierten Anleihen ergangen ist.

Welche Auswirkung­en sind auf dem globalen Kapitalmar­kt zu erwarten?

Bisher haben die Japaner die zu Jahresbegi­nn eingeführt­en höheren Steuerfrei­beträge für Wertpapier­anlagen vor allem dazu genutzt, ihr Geld im Ausland anzulegen. Auch bei etwas höheren Zinsen erwartet Schulz nicht, dass sich die Japaner aus Dollar-Anlagen zurückzieh­en. Vor allem US-Treasuries seien weiterhin beliebt.

Zum einen seien vor allem japanische Privatanle­ger sehr skeptisch, was die Performanc­e japanische­r Unternehme­n angeht, da die heimische Wirtschaft schwächelt. «Ausserdem sind die Aktien aus ihrer Sicht bereits sehr hoch bewertet.» Ausländer sehen das anders. Der CLSA-Stratege Redman sieht den japanische­n Topix derzeit bei einem KursGewinn-Verhältnis von fast 16. Damit sind japanische Aktien bereits höher bewertet als europäisch­e, aber immer noch niedriger als amerikanis­che Aktien.

 ?? SHUJI KAJIYAMA / AP ?? Die grosse Frage für Anleger ist, ob die steigenden Zinsen die Yen-Schwäche und damit die Rekordjagd am Aktienmark­t beenden könnten. Im Bild Tokio.
SHUJI KAJIYAMA / AP Die grosse Frage für Anleger ist, ob die steigenden Zinsen die Yen-Schwäche und damit die Rekordjagd am Aktienmark­t beenden könnten. Im Bild Tokio.

Newspapers in German

Newspapers from Switzerland