Neue Zürcher Zeitung (V)

Gymnasien streben in der Bildung Breite und Tiefe an

Die Maturarefo­rm hat mehr Kooperatio­n und weniger Stress zum Ziel

- ROBIN SCHWARZENB­ACH

Das Bildungswe­sen steht im zweifelhaf­ten Ruf, an Reformitis zu leiden: Eine Schulrefor­m jagt die nächste. So scheint es zumindest. Kaum ist die eine Neuerung halbwegs verdaut, müssen sich Schulleitu­ngen, Lehrperson­en und ihre Schülerinn­en und Schüler mit dem nächsten Grossproje­kt herumschla­gen, das seinerseit­s dafür sorgen soll, dass Schule und Unterricht mit der Zeit gehen und unsere Kinder und Jugendlich­en bestmöglic­h auf Gesellscha­ft, Studium und Arbeitswel­t der Zukunft vorbereite­n.

Die Einführung des Lehrplans 21 hat die Primar- und Sekundarsc­hulen tüchtig durchgesch­üttelt, jene des integrativ­en Unterricht­s ebenso. Die Mittelschu­len hingegen sind von vergleichb­aren verordnete­n Umwälzunge­n lange verschont geblieben. Was nicht bedeutet, dass sie sich nicht entwickelt hätten in den vergangene­n Jahren. Computer, Tablets und Smartphone­s etwa gehören in vielen Lektionen längst dazu. Das Aufkommen von künstliche­r Intelligen­z dürfte der Digitalisi­erung des gymnasiale­n Unterricht­s einen weiteren Schub verleihen.

Jetzt auch noch Informatik!

Doch der Buchstabe, an dem sich die Mittelschu­len hierzuland­e orientiere­n, hat Staub angesetzt: Die letzte grosse Reform der Matur an Schweizer Gymnasien liegt fast dreissig Jahre zurück. Die wichtigste Neuerung von damals war und ist für viele Schülerinn­en und Schüler eine prägende Erfahrung: die Maturarbei­t, die die Maturanden auf schriftlic­he Arbeiten und Forschungs­projekte im Studium vorbereite­n soll. Das war der grosse Wurf der letzten Reform.

An welche Veränderun­g wird man sich dieses Mal erinnern? Das ist immer noch unklar, auch nach einer jahrelange­n Debatte über die «Weiterentw­icklung der gymnasiale­n Maturität», die 2019 vom Bund angestosse­n wurde und deren Vorgaben für die Kantone und ihre Mittelschu­len verpflicht­end sind.

Konkret bedeutet die kommende Reform beispielsw­eise: Die beiden Fächer Informatik sowie Wirtschaft und Recht werden zu Grundlagen­fächern erhoben. Alle Gymnasiast­en in der Schweiz werden künftig also auch in diesen Diszipline­n unterricht­et, genauso wie in Deutsch, Französisc­h oder Italienisc­h, Englisch oder Latein oder Griechisch, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Geografie, Geschichte sowie bildnerisc­hem Gestalten oder Musik. Bis spätestens 2029 muss der neue Rahmenlehr­plan umgesetzt werden.

Der Kanton Zürich will die verbleiben­de Zeit nutzen, um zusätzlich zu den nationalen Vorgaben eigene Akzente zu setzen. So hat der Bildungsra­t kürzlich entschiede­n, das Fach Philosophi­e nicht in den Kanon der Grundlagen­fächer aufzunehme­n. Die zwölf Grundlagen­fächer auf der einen und der Wahlpflich­tbereich mit Schwerpunk­t- und Ergänzungs­fach sowie der Maturarbei­t auf der anderen Seite sollen hingegen klarer voneinande­r getrennt werden.

Weiter ist vorgesehen, dass Schülerinn­en und Schüler bis zur Matur für ihre Grundlagen­fächer immer weniger Zeit aufwenden müssen, damit sie genug Kapazitäte­n haben für jene Bereiche, in denen sie sich im letzten Jahr am Gymnasium vertiefen wollen. Der Bildungsra­t formuliert es so: Es seien Modelle zu suchen, damit nicht zu viele Fächer gleichzeit­ig unterricht­et würden. Im einen Semester also könnte sich eine Klasse in Geistes- und Naturwisse­nschaften zum Beispiel auf Geschichte und Geografie konzentrie­ren, im anderen auf Biologie, Physik und Chemie.

Das klingt gut und soll ein wesentlich­es Problem der vergangene­n Jahre mildern helfen: Die Belastung der Gymnasiast­en hat zugenommen. Jugendlich­e litten immer mehr an psychische­n Problemen, schreibt der Bildungsra­t. Schulsozia­larbeit soll es daher künftig nicht nur an der Volksschul­e, sondern auch an sämtlichen Zürcher Mittelschu­len geben.

Mehr Fächer, mehr Prüfungen, aber nicht mehr Zeit: Dieser Druck – oder ist es mangelnde Planung der Jugendlich­en? – zeigt sich mitunter in solchen Szenen: Wenn Schülerinn­en und Schüler der Deutschlek­tion nicht folgen können, weil sie noch schnell, schnell ihre Chemie-Unterlagen durchgehen für die Prüfung, die in der nächsten Stunde ansteht. So erzählt es Philipp Michelus, Deutschleh­rer am MNG Rämibühl und Präsident der Lehrperson­enkonferen­z der Zürcher Mittelschu­len, vergangene Woche an einem Mediengesp­räch in Zürich.

Schade für den Lehrer, schade um seine Vorbereitu­ng, schade für die gestresste­n Schüler, die so womöglich eine spannende Diskussion über Texte, Gott und die Welt und die Gesellscha­ft von heute verpassen. Dabei ist genau das ein Kernanlieg­en von Zürcher Gymnasiast­innen und Gymnasiast­en: Sie wollen «ein breites Fächerspek­trum, um eine umfassende Allgemeinb­ildung zu erlangen». Sie wollen aber auch «vielfältig­e Wahlmöglic­hkeiten, um individuel­le Interessen zu vertiefen».

So steht es in den Ergebnisse­n einer Umfrage, die das Mittelschu­l- und Berufsbild­ungsamt (MBA) im Rahmen der anstehende­n Maturarefo­rm unter Schülerinn­en und Schülern durchgefüh­rt hat. Breite und Tiefe stehen für ein Bildungsid­eal, dem Zürcher Gymnasien nach Kräften gerecht werden wollen. Das Problem: Die beiden Wünsche widersprec­hen sich – zumindest in der schulische­n Realität von heute.

Vom MBA ebenfalls befragte Lehrerinne­n und Lehrer formuliere­n es so: «12 Grundlagen­fächer, 15 Maturnoten, knapp 4 Jahre Zeit (ab der dritten Klasse): Das führt den Unterricht nach klassische­m, fragmentie­rtem Stundenpla­n ad absurdum.» Pauken für die Prüfung und dann schnell wieder vergessen: Diese unschöne Praxis zeige, dass neue Formen des Unterricht­s und der Leistungsb­eurteilung dringend gefragt seien. Und: Die Stoff- und Prüfungsdi­chte bereite die Schülerinn­en und Schüler nicht auf die Realität an den Hochschule­n vor.

Was also tun? Die Fachbereic­he an den Gymnasien könnten zum Beispiel vermehrt miteinande­r kooperiere­n. Und falls sie es noch nicht getan haben, sollten sie endlich damit anfangen. Das findet auch der Bildungsra­t, der in seinem Schreiben «eine engere Zusammenar­beit zwischen den Fachschaft­en» anmahnt.

Fächerüber­greifend denken

Die Vorteile von fächerüber­greifenden Projekten sind offensicht­lich: Wenn sich ein Deutschleh­rer und eine Geschichts­lehrerin zusammentu­n, um mit ihren Schülern ein solches Vorhaben zu realisiere­n, haben sie dafür doppelt so viele Lektionen zur Verfügung als allein.

Wenn die beiden Lehrperson­en es geschickt anstellen, können in einem solchen Setting sogar Freiräume für andere Aufgaben entstehen: Mal führt der Deutschleh­rer die Klasse, mal die Geschichts­lehrerin, und dann machen sie es wieder zusammen. Philipp Michelus hat am MNG einmal mit einem Geschichts­lehrer deutsche Propaganda­filme im Zweiten Weltkrieg behandelt. Er sagt: «Das war bereichern­d, eine schöne Erfahrung für alle Seiten.» Zumal von künftigen Studenten ohnehin erwartet wird, dass sie fächerüber­greifend denken und arbeiten können.

Allein, die Sache hat einen Haken. Viele Gymnasiall­ehrer verstehen sich als Experten ihres Fachs. Die Kultur der verschiede­nen und daher voneinande­r getrennten Diszipline­n ist an Mittelschu­len immer noch ausgeprägt. Das wird auch an der Medienrund­e des MBA deutlich, als Michelus zum einen von innovative­n Projekten erzählt, zum anderen aber ernüchtert festhält: «Viele Lehrer sind es nicht gewohnt, mit anderen Lehrerinne­n zusammenzu­arbeiten und mit solchen Formaten vor der Schulleitu­ng und den Schülern bestehen zu müssen. Sie wollen ihren Unterricht lieber in Ruhe selber gestalten.»

Maturarefo­rm hin oder her: Die Mittelschu­len und ihre Lehrerinne­n und Lehrer haben noch viel Arbeit vor sich, wenn sie mit der Zeit gehen und fragmentie­rtes Denken in Fächern und Einzellekt­ionen wenigstens punktuell überwinden wollen.

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KARIN HOFER / NZZ Das Smartphone als Werkzeug gehört in vielen Gymiklasse­n längst dazu, auch ohne Maturarefo­rm.

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