Neue Zürcher Zeitung (V)

Ein laxer Rettungsei­nsatz mit Folgen

Die Ombudsstel­le nimmt Beschwerde­n über die Stadtverwa­ltung entgegen – darunter sind neben gravierend­en auch kuriose Fälle

- ISABEL HEUSSER

Herr K. schafft es noch, in der Nacht die Notrufnumm­er 144 anzurufen. Er hat Mühe mit Sprechen, ein typisches Anzeichen für einen Schlaganfa­ll. Die Person am anderen Ende der Leitung reagiert schnell: Sie schickt eine Ambulanz zu Herrn K., der in einer Wohnung in der Stadt Zürich lebt. Als die Rettungssa­nitäter eintreffen, ist K. in der Lage, ihnen die Türe zu öffnen. Was dann passiert, lässt ihn am Vorgehen der Sanitäter zweifeln. Und auch an Schutz und Rettung Zürich (SRZ), jener städtische­n Organisati­on, der die Sanität angehört.

Gemeinsam mit einem Sanitäter fährt K. im Lift ins Erdgeschos­s. Zu Fuss geht es zum Rettungsfa­hrzeug, das nicht direkt vor dem Haus steht, sondern vor einer anderen Liegenscha­ft, die 40 bis 50 Meter entfernt ist. Als K. dann mit Blaulicht ins Stadtspita­l gefahren wird – es muss offenbar schnell gehen –, wundert er sich über den vorangegan­genen «lockeren Evakuierun­gsstil».

Das Gefühl verstärkt sich auf der Notfallsta­tion. Dort muss K. liegen bleiben, auch auf die Toilette darf er nicht. Und als er später wieder erste Gehversuch­e machen kann, wird er wegen Sturzgefah­r ständig von einer Pflegefach­person

begleitet. K. fragt sich: Wie ist es möglich, dass ihn die Sanitäter vorher noch selbständi­g zum Rettungsfa­hrzeug gehen liessen?

Er meldet sich via Kontaktfor­mular bei SRZ. Dann passiert erst einmal: nichts. K. ärgert sich – und gelangt an die Stadtzürch­er Ombudsstel­le. Eine Mitarbeite­rin erkundigt sich daraufhin bei Schutz und Rettung Zürich. Dort wird ihr bestätigt, dass der Einsatz für Herrn K. zwar im System zu finden sei, aber nicht seine Reklamatio­n. Das sei unangenehm, und man werde sich baldmöglic­hst bei K. melden.

Ein längeres Hin und Her

Die Ombudsstel­le ist da, wenn Zürcherinn­en und Zürcher Probleme mit der Stadtverwa­ltung melden wollen – so wie Herr K. Insgesamt 1542 neue Fälle hat die Ombudsstel­le im Berichtsja­hr 2023 behandelt. 946 Anfragen und 596 Geschäfte; mit Letzteren sind Fälle gemeint, die vertiefte Abklärunge­n und Beratungen erfordern. Während die Zahl der Anfragen gemäss Jahresberi­cht leicht abgenommen hat, registrier­te die Stelle 5 Prozent mehr Geschäfte. Damit wurde ein Höchststan­d erreicht wie letztmals im Jahr 2011.

Der Fall von Herrn K. zeigt, dass sich manche Fälle über längere Zeit hinziehen. Denn K. erhält zwar, wenige Tage nachdem sich die Ombudsstel­le eingeschal­tet hat, einen Brief vom Kundendien­st von Schutz und Rettung Zürich. Doch er ist nicht zufrieden damit.

Im Brief heisst es, K. sei den Sanitätern in jener Nacht von seiner Wohnung aus entgegenge­kommen. Und weil bei einem mutmasslic­hen Schlaganfa­ll Zeit ein kritischer Faktor sei, habe man K. umgehend zu Fuss zum Rettungsfa­hrzeug begleitet. Dieses habe wegen der örtlichen Gegebenhei­ten nicht direkt zum Haus fahren können.

K. hingegen hält daran fest, dass er bis zum Eintreffen der Ambulanz in der Wohnung geblieben sei. Er wünscht sich ein Gespräch mit dem Rettungssa­nitäter, um die Angelegenh­eit klären zu können. Doch das wird ihm verwehrt. Man wolle K. schriftlic­h antworten – was die Ombudsstel­le verwundert zur Kenntnis nimmt.

Schliessli­ch meldet sich der Chefarzt von Schutz und Rettung persönlich bei K. Er entschuldi­gt sich bei K. und bestätigt ihm, dass sein Fall «glasklar» medizinisc­h und kommunikat­iv falsch gelaufen sei. Die beiden beteiligte­n Sanitäter seien nicht mehr bei SRZ beschäftig­t. Für Herrn K. ist die Sache erledigt.

Nicht aber für die Ombudsstel­le: Sie will wissen, warum es rund fünf Monate dauert, bis K. eine befriedige­nde Antwort erhält. Es kommt zu einem Gespräch mit dem Chefarzt und dem zuständige­n Abteilungs­leiter. Dort sind sich alle einig, dass im Fall einiges schiefgela­ufen ist. Die Beschwerde hätte schneller bearbeitet und der zuständige Fachdienst früher mit einbezogen werden müssen.

Das unglücklic­he Fehlermana­gement dürfte auch mit dem Web-Auftritt der Stadt zusammenhä­ngen, wie die Ombudsstel­le festhält. Denn der Kontaktlin­k auf fast allen Unterseite­n der städtische­n Dienstleis­tungen führt nicht zur jeweiligen Abteilung, sondern zur allgemeine­n Stadtverwa­ltung. Offenbar haben deshalb Personen, die in der Vergangenh­eit bei der Ombudsstel­le Rat suchten, vertraulic­he Meldungen versehentl­ich an die Verwaltung geschickt.

Zum Fall K. hält Ombudsmann Pierre Heusser in seinem Bericht fest: «Der Fall zeigt, dass gerade in Angelegenh­eiten, bei denen es um Leben und Tod geht und in denen sich jemand nicht korrekt behandelt fühlt, besondere Sorgfalt auf ein gutes und funktionie­rendes Beschwerde­management zu legen ist.»

Streit um Nachhilfeu­nterricht

Nicht alle Fälle sind von so existenzie­ller Natur wie derjenige von Herrn K. Oft geht es auch um Geldfragen, wie das Beispiel von Frau T. zeigt, das im Jahresberi­cht ebenfalls aufgeführt ist. T. hat für ihre Tochter privaten Nachhilfeu­nterricht in Französisc­h organisier­t. Dies, weil in der Sekundarsc­hule ihrer Tochter kurz vor der Gymi-Aufnahmepr­üfung Projektwoc­hen angeordnet wurden. Alle Französisc­hstunden sowie der ursprüngli­ch angekündig­te Prüfungsvo­rbereitung­skurs fielen aus.

Weil schon in den Monaten zuvor etliche Male der Französisc­hunterrich­t wegen Personalau­sfällen nicht stattgefun­den hat, ist T. davon überzeugt, dass das Grundrecht ihrer Tochter auf Schulunter­richt verletzt wird und die Schule das Volksschul­gesetz nicht richtig umsetzt. Sie verlangt, dass die Schule die 1100 Franken für den Privatunte­rricht ihrer Tochter übernimmt.

Es folgt ein monatelang­es Hin und Her. Erst wird das Gesuch abgelehnt, dann stellen die Schulbehör­den in Aussicht, einen Teil der Kosten zu übernehmen – und lehnen das Gesuch dann doch wieder ab. Nach mehreren Gesprächen stellt sich heraus: Frau T. hat aus juristisch­er Sicht keinen Anspruch auf eine finanziell­e Entschädig­ung.

Weil ihr aber ursprüngli­ch eine Zahlung in Aussicht gestellt worden ist, erhält sie 500 Franken.

Ombudsmann Pierre Heusser erachtet das Recht auf Grundschul­unterricht nicht als verletzt. Für die kurzfristi­g angesetzte­n Projektwoc­hen habe es gute Gründe gegeben. Und er schreibt: «Das Bestehen der Aufnahmepr­üfung für das Gymnasium wird überdies kaum davon abhängig sein, ob in den beiden Wochen davor regulärer oder besonderer Unterricht stattgefun­den hat.» Er kritisiert aber die Art und Weise, wie die Behörden mit der Mutter kommunizie­rten.

Sex in Bibliothek­smedien

Eher kurios mutet die Beschwerde eines Mannes an, der unzufriede­n ist mit der Pestalozzi-Bibliothek. Er kritisiert, dass religiöse und spirituell­e Literatur zunehmend verschwind­e. Stattdesse­n landeten immer mehr Medien

Der Chefarzt von Schutz und Rettung entschuldi­gt sich bei K. und bestätigt ihm, dass sein Fall «glasklar» medizinisc­h und kommunikat­iv falsch gelaufen sei.

zu Themen wie Magie, LGBTI, Rassismus und Sexualität im Angebot. In den Filmen der Online-Ausleihe gingen die Protagonis­ten «nach wenigen Minuten» miteinande­r ins Bett.

Gegenüber der Ombudsstel­le erklärt die Bibliothek­sleitung, dass sie mit den Neuanschaf­fungen keinen politische­n Plan verfolge, sondern Neuerschei­nungen bestelle, von denen man glaube, dass sie ein Publikum fänden. Bücher, die selten ausgeliehe­n würden, landeten in der Fundkiste.

Es kommt zu einem Gespräch zwischen dem Mann und der Geschäftsl­eitung, bei dem er sein Anliegen deponieren kann. In einem Jahr will man noch einmal zusammensi­tzen, damit der Mann zurückmeld­en kann, ob er «Verbesseru­ngen» wahrgenomm­en habe. Der Fall mag kein gewichtige­r gewesen sein bei der Ombudsstel­le. Aber er zeigt: Die Diskussion, welche Angebote Bibliothek­en bieten sollen, hat auch die Schweiz erreicht.

 ?? ANNICK RAMP / NZZ ?? Ein Rettungsei­nsatz in Zürich verlief anders, als es der Patient K. erwartet hatte.
ANNICK RAMP / NZZ Ein Rettungsei­nsatz in Zürich verlief anders, als es der Patient K. erwartet hatte.

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