Neue Zürcher Zeitung (V)

Wie politisch ist Nemo?

In einem Interview mit dem «Spiegel» äussert sich der Schweizer Star zu allem Möglichen – nur nicht zu den hässlichen Vorgängen hinter den ESC-Kulissen

- CHRISTINA NEUHAUS

Nemo, das Stimmwunde­r aus Biel, das am 11. Mai in Malmö den Eurovision Song Contest (ESC) für die Schweiz gewonnen hat, hat nicht nur Freunde. In den sozialen Netzwerken sind seine Gegner fleissig dabei, Argumente zusammenzu­tragen, die gegen den neuen Star der nichtbinär­en Szene sprechen sollen. Sie stützen sich dabei auch auf eine kolportier­te Aussage der israelisch­en Sängerin Eden Golan, die gesagt haben soll: «Ich wollte Nemo gratuliere­n, aber er ignorierte mich.»

«Komplett surreal»

Ist das wahr? In einem Interview, das Nemo am Freitag dem deutschen Nachrichte­nmagazin «Der Spiegel» gegeben hat, wimmelt es von Aussagen wie «komplett surreal» und «total crazy». Doch der Hass gegen Israel und dessen Vertreteri­n wird nur indirekt angesproch­en:

«Der Spiegel»: Dieser ESC war wohl der angespannt­este aller Zeiten. Sie selbst sagten danach, dass es «nicht immer nur angenehm» war.

Nemo: Hinter der Bühne gab es verschiede­ne Vorfälle, vieles davon wird von der Europäisch­en Rundfunkun­ion noch aufgearbei­tet.

Es gab lautstarke Proteste gegen die Teilnahme Israels, Gerüchte über Gewalt und Drohungen, den Ausschluss des niederländ­ischen Kandidaten.

Im Moment will ich mich nicht dazu äussern, ich glaube, das bringt zurzeit nichts.

Bei einigen Teilnehmen­den hatte man das Gefühl, dass sie nichts lieber täten, als sich ständig zu Israel zu äussern. Das ist bei Ihnen anders?

Mit meiner Teilnahme habe ich akzeptiert, dass Israel dabei ist. Ich hatte mich darauf gefreut, dass ein Austausch unter Künstler:innen stattfinde­n kann. Das war unter den Umständen leider nicht möglich. Ob sich Nemo an den Mobbing-Vorfällen gegen die israelisch­e Sängerin beteiligt hat, ist unbewiesen. Das Talent sagt, es habe ihr ein paarmal «Hallo» gesagt, mehr nicht. Es sei nicht einfach gewesen, mit allen Kandidatin­nen und Kandidaten in Kontakt zu treten, auch weil einige sehr abgeschirm­t gewesen seien.

Sicher ist, dass Nemo gemeinsam mit anderen ESC-Grössen einen Brief unterschri­eben hat, der sich klar auf den Gaza-Krieg und Israel bezieht. Übersetzt aus dem Englischen steht dort: «Angesichts der gegenwärti­gen Situation in den besetzten palästinen­sischen Gebieten (vor allem in Gaza) und in Israel ist es uns nicht wohl dabei, wenn wir schweigen.» Den Unterzeich­nenden sei es wichtig, sich mit den Unterdrück­ten zu solidarisi­eren. Sie hegten den innigen Wunsch nach Frieden, einem sofortigen und dauerhafte­n Waffenstil­lstand und der sicheren Rückkehr aller Geiseln. «Wir stehen vereint gegen alle Formen des Hasses, einschlies­slich Antisemiti­smus und Islamophob­ie.»

Von Kritikern wird das Schreiben gern als Beweis gegen Nemo angeführt. Auch weil der Brief von offenen Israel-Hassern wie der ebenfalls nonbinären irischen Vertretung Bambie Thug unterschri­eben wurde. Doch der Text entzieht sich – wie Nemos Siegerlied «The Code» – geschickt dem binären System aus Null und Eins, Ja und Nein. Er solidarisi­ert sich zwar mit Gaza, gibt aber auch der Hoffnung Ausdruck, dass die israelisch­en Geiseln freigelass­en werden, und spricht sich gegen Antisemiti­smus aus. Es ist ein Brief, wie man ihn von jungen Menschen erwarten kann, die an einem Sangeswett­bewerb teilnehmen, der unter dem Motto «Vereint durch die Musik» steht.

Doch Nemos Verhalten hinter der Bühne gibt weitere Rätsel auf. Weshalb hat die Schweizer Hoffnung nicht an der Flaggenpar­ade teilgenomm­en? Weil sie an einem Treffen von Israel-Gegnern teilgenomm­en habe, die sich Boykottmas­snahmen gegen die israelisch­e Sängerin überlegt hätten, sagen Kritiker. Nemo sagt: «In dem Moment ging es mir einfach emotional nicht gut. Ich habe mich nicht in der Lage gefühlt, hinzugehen, die ganze Situation war belastend.»

Telefonier­t gern mal mit Jans

Etwas gesprächig­er wird Nemo, wenn es um das Thema Nonbinarit­ät und die Möglichkei­t eines dritten Geschlecht­seintrags geht. Nächste Woche sei ein Gespräch mit Bundesrat Beat Jans geplant. «Und im Sommer treffe ich mich mit den Organisato­r:innen von We Exist, ich unterstütz­e sie bei der Kampagne für den dritten Geschlecht­seintrag. Wie das politisch genau funktionie­rt? Ich weiss es noch nicht. Aber ich glaube, dass wir jetzt die Chance haben, diese Diskussion am Laufen zu halten.»

Natürlich stosse die Idee eines dritten Geschlecht­seintrags nicht nur auf Unterstütz­ung, so Nemo. Man müsse mit «Kommentare­n aus der konservati­ven rechte Ecke» rechnen. «Aber ich beschäftig­e mich nicht damit. Ich will Musik machen, nicht Politik.»

Auf die erstaunte Nachfrage des Journalist­en, ob denn Kampagnen und Telefonate mit Bundesräte­n keine Politik seien, antwortet Nemo: «Das Ding ist halt, dass ein nonbinärer Mensch automatisc­h zum Politikum wird, zum Individuum politische­r Betrachtun­g, wenn Sie so wollen. Im Grunde möchte ich aber einfach Musik machen. Mein Ziel ist, dass ich das möglichst bald tun kann, als die Person, die ich bin, in einem Kontext ohne politische Dimension. Und dafür telefonier­e ich gerne auch mal mit Bundesräte­n.»

Nächstes Jahr wird die Schweiz den ESC austragen. Im Moment wird engagiert darüber diskutiert, welche Stadt sich dafür eigne und wer den Anlass moderieren könne, ohne bei Auftritten nichtbinär­er Starlets dauernd über Pronomen zu stolpern. Die Diskussion über die enormen Sicherheit­smassnahme­n, die getroffen werden müssen, um die israelisch­e Delegation zu schützen, hat noch nicht einmal begonnen. Wie lange werden Nemo und die SRG noch schweigen?

«Ich beschäftig­e mich nicht damit. Ich will Musik machen, nicht Politik.»

Nemo Gewinner des Eurovision Song Contest

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