Wie politisch ist Nemo?
In einem Interview mit dem «Spiegel» äussert sich der Schweizer Star zu allem Möglichen – nur nicht zu den hässlichen Vorgängen hinter den ESC-Kulissen
Nemo, das Stimmwunder aus Biel, das am 11. Mai in Malmö den Eurovision Song Contest (ESC) für die Schweiz gewonnen hat, hat nicht nur Freunde. In den sozialen Netzwerken sind seine Gegner fleissig dabei, Argumente zusammenzutragen, die gegen den neuen Star der nichtbinären Szene sprechen sollen. Sie stützen sich dabei auch auf eine kolportierte Aussage der israelischen Sängerin Eden Golan, die gesagt haben soll: «Ich wollte Nemo gratulieren, aber er ignorierte mich.»
«Komplett surreal»
Ist das wahr? In einem Interview, das Nemo am Freitag dem deutschen Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» gegeben hat, wimmelt es von Aussagen wie «komplett surreal» und «total crazy». Doch der Hass gegen Israel und dessen Vertreterin wird nur indirekt angesprochen:
«Der Spiegel»: Dieser ESC war wohl der angespannteste aller Zeiten. Sie selbst sagten danach, dass es «nicht immer nur angenehm» war.
Nemo: Hinter der Bühne gab es verschiedene Vorfälle, vieles davon wird von der Europäischen Rundfunkunion noch aufgearbeitet.
Es gab lautstarke Proteste gegen die Teilnahme Israels, Gerüchte über Gewalt und Drohungen, den Ausschluss des niederländischen Kandidaten.
Im Moment will ich mich nicht dazu äussern, ich glaube, das bringt zurzeit nichts.
Bei einigen Teilnehmenden hatte man das Gefühl, dass sie nichts lieber täten, als sich ständig zu Israel zu äussern. Das ist bei Ihnen anders?
Mit meiner Teilnahme habe ich akzeptiert, dass Israel dabei ist. Ich hatte mich darauf gefreut, dass ein Austausch unter Künstler:innen stattfinden kann. Das war unter den Umständen leider nicht möglich. Ob sich Nemo an den Mobbing-Vorfällen gegen die israelische Sängerin beteiligt hat, ist unbewiesen. Das Talent sagt, es habe ihr ein paarmal «Hallo» gesagt, mehr nicht. Es sei nicht einfach gewesen, mit allen Kandidatinnen und Kandidaten in Kontakt zu treten, auch weil einige sehr abgeschirmt gewesen seien.
Sicher ist, dass Nemo gemeinsam mit anderen ESC-Grössen einen Brief unterschrieben hat, der sich klar auf den Gaza-Krieg und Israel bezieht. Übersetzt aus dem Englischen steht dort: «Angesichts der gegenwärtigen Situation in den besetzten palästinensischen Gebieten (vor allem in Gaza) und in Israel ist es uns nicht wohl dabei, wenn wir schweigen.» Den Unterzeichnenden sei es wichtig, sich mit den Unterdrückten zu solidarisieren. Sie hegten den innigen Wunsch nach Frieden, einem sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand und der sicheren Rückkehr aller Geiseln. «Wir stehen vereint gegen alle Formen des Hasses, einschliesslich Antisemitismus und Islamophobie.»
Von Kritikern wird das Schreiben gern als Beweis gegen Nemo angeführt. Auch weil der Brief von offenen Israel-Hassern wie der ebenfalls nonbinären irischen Vertretung Bambie Thug unterschrieben wurde. Doch der Text entzieht sich – wie Nemos Siegerlied «The Code» – geschickt dem binären System aus Null und Eins, Ja und Nein. Er solidarisiert sich zwar mit Gaza, gibt aber auch der Hoffnung Ausdruck, dass die israelischen Geiseln freigelassen werden, und spricht sich gegen Antisemitismus aus. Es ist ein Brief, wie man ihn von jungen Menschen erwarten kann, die an einem Sangeswettbewerb teilnehmen, der unter dem Motto «Vereint durch die Musik» steht.
Doch Nemos Verhalten hinter der Bühne gibt weitere Rätsel auf. Weshalb hat die Schweizer Hoffnung nicht an der Flaggenparade teilgenommen? Weil sie an einem Treffen von Israel-Gegnern teilgenommen habe, die sich Boykottmassnahmen gegen die israelische Sängerin überlegt hätten, sagen Kritiker. Nemo sagt: «In dem Moment ging es mir einfach emotional nicht gut. Ich habe mich nicht in der Lage gefühlt, hinzugehen, die ganze Situation war belastend.»
Telefoniert gern mal mit Jans
Etwas gesprächiger wird Nemo, wenn es um das Thema Nonbinarität und die Möglichkeit eines dritten Geschlechtseintrags geht. Nächste Woche sei ein Gespräch mit Bundesrat Beat Jans geplant. «Und im Sommer treffe ich mich mit den Organisator:innen von We Exist, ich unterstütze sie bei der Kampagne für den dritten Geschlechtseintrag. Wie das politisch genau funktioniert? Ich weiss es noch nicht. Aber ich glaube, dass wir jetzt die Chance haben, diese Diskussion am Laufen zu halten.»
Natürlich stosse die Idee eines dritten Geschlechtseintrags nicht nur auf Unterstützung, so Nemo. Man müsse mit «Kommentaren aus der konservativen rechte Ecke» rechnen. «Aber ich beschäftige mich nicht damit. Ich will Musik machen, nicht Politik.»
Auf die erstaunte Nachfrage des Journalisten, ob denn Kampagnen und Telefonate mit Bundesräten keine Politik seien, antwortet Nemo: «Das Ding ist halt, dass ein nonbinärer Mensch automatisch zum Politikum wird, zum Individuum politischer Betrachtung, wenn Sie so wollen. Im Grunde möchte ich aber einfach Musik machen. Mein Ziel ist, dass ich das möglichst bald tun kann, als die Person, die ich bin, in einem Kontext ohne politische Dimension. Und dafür telefoniere ich gerne auch mal mit Bundesräten.»
Nächstes Jahr wird die Schweiz den ESC austragen. Im Moment wird engagiert darüber diskutiert, welche Stadt sich dafür eigne und wer den Anlass moderieren könne, ohne bei Auftritten nichtbinärer Starlets dauernd über Pronomen zu stolpern. Die Diskussion über die enormen Sicherheitsmassnahmen, die getroffen werden müssen, um die israelische Delegation zu schützen, hat noch nicht einmal begonnen. Wie lange werden Nemo und die SRG noch schweigen?
«Ich beschäftige mich nicht damit. Ich will Musik machen, nicht Politik.»
Nemo Gewinner des Eurovision Song Contest