Neue Zürcher Zeitung (V)

Mitverantw­ortung für Antisemiti­smus

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Es gibt wieder offen auftretend­en Antisemiti­smus in Europa, auch in der Schweiz. Das ist beunruhige­nd, die Empörung ist zu Recht gross.

Hätte allerdings der Antisemiti­smus auch eine Chance gehabt, wenn die europäisch­en Staaten, wenn die Schweiz nicht nur den Terrorakt der Hamas vom 7. Oktober verurteilt hätten, sondern ebenso entschiede­n und folgenreic­h das Gebaren der israelisch­en Regierung und ihrer Armee in Gaza?

Hätte der Antisemiti­smus hierzuland­e auch dann eine Chance gehabt, wenn die internatio­nale Gemeinscha­ft in den vielen Jahren seit 1947 alles darangeset­zt hätte, Verspreche­n wahr zu machen und einen palästinen­sischen Staat zu schaffen bzw. zuzulassen und die friedliche Koexistenz der beiden Staaten zu überwachen?

Mit dem zögerliche­n, abwiegelnd­en und unentschlo­ssenen Verhalten gegenüber dem offensicht­lichen israelisch­en Unrecht gegen die palästinen­sische Bevölkerun­g – im Windschatt­en der omnipräsen­ten USA – haben unsere Regierunge­n, verstärkt seit den Ereignisse­n nach dem 7. Oktober 2023, nicht nur Proteste gegen sich und gegen das offizielle Israel in den eigenen Ländern heraufbesc­hworen, sondern tragen auch sehr direkt eine Mitverantw­ortung für den wieder aufgeflamm­ten Antisemiti­smus in Europa.

Gegen Judenhass in jeglicher Form zu sein, ist richtig und wichtig, ebenso richtig und wichtig ist es, einen unsinnigen und menschenve­rachtenden Krieg entschiede­n zu verurteile­n und entspreche­nde Massnahmen zu ergreifen. Alles andere ist scheinheil­ig und feige.

Verena Schmid Bagdasarja­nz, Solothurn

Nietzsche nannte Kant «den Chinesen in Königsberg». Damit wird die entscheide­nde Rolle der Begegnung der Europäer mit Konfuzius als Auslöser der Aufklärung hervorgeho­ben.

Im 17. Jahrhunder­t lernten westliche Philosophe­n Konfuzius und andere chinesisch­e Klassiker in Übersetzun­gen jesuitisch­er Missionare kennen. Sie entdeckten, dass Ethik und Moral nicht an die Offenbarun­gen jüdisch-christlich­er Traditione­n gebunden sein müssen.

Bereits der Leibniz-Schüler Christian Wolff hatte 1712 die «Klassische­n Bücher des chinesisch­en Reichs» in der Übersetzun­g von Francis Noël gelesen. Wegen seiner Hallenser Rektoratsr­ede «über die praktische Philosophi­e der Chinesen», in der Wolff Konfuzius zum Vorbild eines durch die eigene Vernunft geleiteten Handelns bezeichnet­e, wurde er unter Friedrich Wilhelm I. 1721 «bey Strafe des Stranges» des Landes verwiesen. Hellsichti­g hatten die Pietisten die Gefahr erkannt, die die Aufklärung für ihren eigenen Einfluss auf den Staat bedeutete.

Die Sprengkraf­t von Wolffs Bekenntnis kann als geistiger Katalysato­r der Aufklärung gesehen werden: Menschen können kraft ihres Verstandes ihre Anlagen entfalten, und durch umfassende Bildung der Eliten und des Volkes kann ein aufgeklärt­er Staat gestaltet werden, der nicht mehr von der Macht der Religionen abhängig ist.

Erst nach der Krönung des preussisch­en Königs Friedrichs II. durfte Wolff nach Halle zurückkehr­en. Kant hatte das Glück, in der Regierungs­zeit Friedrichs des Grossen frei lehren und schreiben zu können. Er setzte sich dafür ein, das Land zu säkularisi­eren und dem Volk Religions- und Redefreihe­it zu gewähren. Seine «Kritik der reinen Vernunft» markierte einen Wendepunkt in der Geschichte der westlichen Philosophi­e.

Hilmar Kaht, Berlin (D)

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