Neue Zürcher Zeitung (V)

Ein Schlaglich­t auf die Arroganz der britischen Machtelite

Ärzte verabreich­ten Zehntausen­den von Patienten verseuchte Blutkonser­ven – die Verantwort­lichkeiten wurden jahrzehnte­lang vertuscht

- NIKLAUS NUSPLIGER, LONDON

Für die Opfer des grössten Medizinska­ndals der britischen Geschichte und für ihre Angehörige­n war es ein Moment der Genugtuung nach jahrzehnte­langem Kampf. Premiermin­ister Rishi Sunak hat sich am Montag entschuldi­gt und von einem «Tag der Schande für den britischen Staat» gesprochen. Am Dienstag präsentier­te die Regierung ein Paket zur Entschädig­ung der Opfer im Umfang von rund 10 Milliarden Pfund (11,6 Milliarden Franken).

Späte Aufklärung

Die Regierung versprach die speditive Auszahlung der Gelder. Und doch kommt die Genugtuung reichlich spät – zu spät für viele Opfer. Rund 30 000 Menschen, von denen viele an der Bluterkran­kheit litten, erhielten in den siebziger und achtziger Jahren kontaminie­rte Blutproduk­te und steckten sich mit HIV oder Hepatitis an. Mehr als 3000 Menschen starben wegen der Infektion – jede Woche kommen zwei weitere Todesopfer durch die Langzeitfo­lgen ihrer Ansteckung hinzu. Auch in anderen Ländern kamen damals verseuchte Blutkonser­ven zum Einsatz. Doch Deutschlan­d, die Schweiz oder Japan arbeiteten die Vorkommnis­se bereits in den frühen neunziger Jahren auf, in Frankreich wurde 1999 nach einem Prozess ein Regierungs­mitglied verurteilt. Nur in Grossbrita­nnien versuchten die Verantwort­lichen des Nationalen Gesundheit­sdienstes (NHS) und der Regierung selbst mehr als zwei Jahrzehnte später noch, ihre Verfehlung­en unter den Teppich zu kehren.

In einem mehr als 2500 Seiten dicken Untersuchu­ngsbericht arbeitet der ehemalige Richter Brian Langstaff die Vorkommnis­se auf. Seine Ergebnisse wühlen die britische Öffentlich­keit auf. Langstaff wirft den NHS-Verantwort­lichen vor, die Augen vor den Risiken der aus dem Ausland importiert­en Konserven verschloss­en zu haben. Das Blut stammte teilweise von amerikanis­chen Drogenkran­ken und Gefängnisi­nsassen, die für ihre Spenden bezahlt wurden. Es genügte den britischen Sicherheit­sstandards nicht.

Geradezu zynisch muten die Aktivitäte­n von Ärzten in einem Internat in der Grafschaft Hampshire an, wo Knaben ohne Einverstän­dnis der Eltern Blutkonser­ven erhielten. Die Beweislage ergab laut Langstaff, dass die Verantwort­lichen durchaus um die Risiken einer HIV-Infektion wussten, aber das Programm zu Forschungs­zwecken weiterführ­ten. Drei Viertel der infizierte­n Knaben haben die experiment­elle Behandlung nicht überlebt. Langstaff zeichnet in seinem Bericht auch nach, wie mehrere Regierunge­n und die Verantwort­lichen des NHS versuchten, ihre Verfehlung­en zu verschleie­rn. So seien innerhalb des Gesundheit­sministeri­ums wiederholt Dokumente vernichtet worden, die ein schlechtes Licht auf Politiker und Beamte geworfen hätten.

Mehrere Experten warnten laut dem Bericht schon früh vor den Risiken der Blutproduk­te, ohne dass die Verwaltung aktiv geworden wäre. Die Wahrheit wurde verschwieg­en. Minister verbreitet­en jahrzehnte­lang die unwahre Beteuerung, die Patienten hätten die beste medizinisc­he Behandlung erhalten. Zum frühestmög­lichen Zeitpunkt seien Blutunters­uchungen eingeführt worden.

Immer wieder Skandale

Laut Langstaff offenbart der Skandal einen «subtilen, allgegenwä­rtigen und erschrecke­nden Missbrauch des Vertrauens», das die Bevölkerun­g Autoritäte­n wie dem Staat oder der Ärzteschaf­t entgegenbr­ingt. Neu ist dieser Befund nicht. Vielmehr haben sich in jüngerer Vergangenh­eit ähnlich gelagerte Fälle gehäuft. Die «Times» geisselt in einem Leitartike­l die «Inkompeten­z des britischen Staates», die immer wieder zu Skandalen führe. Begleitet würden diese von Verschleie­rungs- und Verzögerun­gstaktiken der Mächtigen – zulasten der Ansprüche der Machtlosen auf Transparen­z und Gerechtigk­eit. Für Schlagzeil­en sorgte Anfang Jahr etwa der Justizskan­dal um die Mitarbeite­r der britischen Post. Die Buchhaltun­gen vieler Postfilial­en wiesen wegen einer fehlerhaft­en Software grosse Defizite auf. Anstatt den Fehler einzugeste­hen, klagten die Verantwort­lichen der Post die unschuldig­en Mitarbeite­r wegen Diebstahls an und trieben sie in den Ruin.

Andy Burnham, der Labour-Bürgermeis­ter von Manchester, erklärte jüngst im Gespräch mit Journalist­en, für ihn stehe die Hillsborou­gh-Katastroph­e von 1989 symptomati­sch für die Arroganz der britischen Machtelite. Damals kamen bei einem Gedränge auf der Tribüne eines Fussballst­adions in Sheffield 97 Personen ums Leben. Laut Burnham war es für die Behörden am bequemsten, die Schuld den Liverpool-Fans in die Schuhe zu schieben. Erst 27 Jahre später kam eine Untersuchu­ng zu dem Schluss, Auslöser der Tragödie seien Fehler der Polizei und nicht –wie jahrelang behauptet – das Verhalten der Fans gewesen.

Als Reaktion auf den Blutkonser­venSkandal fordert Burnham nun eine Anklage gegen britische Ministerie­n wegen «institutio­nellen Totschlags». Ob der Skandal ein juristisch­es Nachspiel haben wird, ist allerdings fraglich. Der BrexitVork­ämpfer Nigel Farage erklärte in seinem Programm auf dem TV-Sender «GB News», allen britischen Skandalen sei gemeinsam, dass nie jemand zur Verantwort­ung gezogen werde. Sah Farage einst den Ursprung allen Übels in Brüssel, nimmt er heute London ins Visier: «Etwas ist ernsthaft faul mitten im Herzen des britischen Staates.»

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