Die wuchernden Sprachen des Internets
Mit der immer breiteren Digitalisierung und der damit verbundenen Beschleunigung der Kommunikation hat die Sprache einen starken Wandel erfahren. Geht damit eine Bereicherung oder eine Verarmung einher?
Es gibt kein Gesetz ohne Sprache und keine Sprache ohne Gesetz. Im Laufe der Zeit ändern sich beide, manchmal fast unbemerkt langsam, manchmal so schnell, dass wir kaum Schritt halten können.
Gegenwärtig erleben wir eine Epoche unerhörter Beschleunigung, und die Ursachen liegen auf der Hand. Obwohl sich die Jugend eine Welt ohne es nicht vorstellen kann, ist das Internet noch immer eine neue gesellschaftliche Domäne. Wegen der Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung, die der computergestützten Kommunikation zugrunde liegt, ist es schwer zu entscheiden, ob deren bewusstseinsverändernde Wirkungen befreiend oder einschränkend sind, aber dass es solche Wirkungen gibt, würden nur wenige bestreiten. Die Entwicklung, deren Zeugen wir in den letzten drei Jahrzehnten waren – seit das World Wide Web öffentlich zugänglich wurde –, weist in der Geschichte kaum Parallelen auf.
Flut neuer Wörter
Die Flut neuer Wörter, die mit der Digitalisierung in die Sprache kommen, ist ein Zeichen des Wandels. Was Cookies sind, Browser, Hacking, Tracking, Trojaner oder Spam, wissen wir alle, und was DAU bedeutet, ausser dem DAU (dümmsten anzunehmenden User) selber, wohl auch. Internet-Slang füllt mittlerweile Sammlungen mit Tausenden von Einträgen.
Es sind freilich nicht nur die zahllosen Neologismen und Akronyme, 4u (for you), ABF (allerbeste/r Freund/in), die den Einfluss auf die Sprache markieren. Modewörter gibt es immer, aber digitale Kommunikation ist anders; anders nämlich als die Kommunikation der Druckkultur, die durch deutliche Grenzen zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch gekennzeichnet war.
Fibeln waren eine wichtige Station auf dem Weg in die Gesellschaft der Erwachsenen. Sprachakademien, oft unter staatlicher Schirmherrschaft, setzten Normen, die bestimmten, was zur Sprache gehört und was nicht. Lehrer vermittelten sie, und Verlage und Zeitungen machten sich zu ihren Hütern, an denen, wer schreiben wollte, nicht leicht vorbeikam. «Dem Volk aufs Maul schauen», war zwar Luthers Maxime, aber das hiess ja lediglich: «nicht Lateinisch».
Als Ergebnis der allgemeinen Schulpflicht und der Alphabetisierung besteht überall in Europa zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache eine mehr oder weniger weite Kluft. Es gibt Unterschiede, wie sie zum Beispiel in der schweizerischen Bezeichnung «Schriftdeutsch» zum Ausdruck kommen. Aber den Abstand zwischen mündlich und schriftlich gibt es überall. Mit SMS und E-Mails wird er kleiner.
Die Druckkultur hat die Sprache verdinglicht. Wörterbücher machten sie greifbar. Inzwischen sind sie zu Museumsstücken geworden. Dass Neuauflagen früher im Abstand von Jahrzehnten erschienen, nimmt sich heute skurril aus. Selbst die konservativsten Wörterbücher werden halbjährlich, wenn nicht kontinuierlich «updated», und die meisten erscheinen gar nicht mehr in gedruckter Form. Was tritt an ihre Stelle? Das ist eine Frage, die nicht nur das Medium betrifft.
Die Druckkultur war Teil des Druckkapitalismus, war die Druckerpresse doch die erste Maschine der Massenproduktion und förderte als solche eine Standardisierung von Produktionsprozessen und Produkten, die in der vormodernen Gesellschaft unbekannt war. Standardsprache und Nationalsprache gingen daraus hervor, und der Begriff der Minderheitensprache war quasi ein spätes Nebenprodukt davon. Schriftlich verwendet wurden nur wenige Sprachen, und im allgemeinen Bewusstsein waren nur sie, in Pierre Bourdieus Worten, «legitime Sprachen». Alles andere waren Dialekte, Kauderwelsch, Gebrabbel, wie sie mehr oder weniger herabsetzend bezeichnet wurden. Die Druckkultur war im Wesentlichen einsprachig. Pflichtschule, Bürokratie und Öffentlichkeit als Voraussetzung politischer Teilhabe waren die tragenden Säulen, die sprachliche Homogenität verlangten beziehungsweise förderten.
Heute ist die historische und ideologische Bedingtheit dieser Sichtweise deutlich. Ihre Auflösung ist eine Begleiterscheinung des Übergangs vom Druckkapitalismus zum Digitalkapitalismus, der neben vielen anderen Veränderungen dazu beiträgt, dass viel mehr Sprachen – etwa in den sozialen Netzwerken – sichtbar werden, also eine schriftliche Form bekommen.
Das wirft die Frage auf, wer diese Form gestalten, wer Normen setzen soll. Im Zeitalter der Druckkultur hatten Akademien, Erziehungsministerien und andere marktunabhängige Institutionen Autorität über Stil, Grammatik, Rechtschreibung usw. Werden sie heute von den Big-Tech-Monopolisten an den Rand gedrängt? Lernen Kinder die Regeln der eigenen Sprache und die von Fremdsprachen nur noch von der Software profitorientierter Firmen? Gibt es noch eine Instanz, die nicht den Gesetzen des Markts unterworfen ist? Manche erinnern sich vielleicht noch daran, dass François Mitterrand und Felipe González nur verkrüppelt als Francois bzw. Gonzales im Internet auftreten konnten, weil nur das englische Alphabet codiert war. Umlaute, Akzente und andere Extravaganzen gab es nicht. Das ist heute anders, wo auch Tausende chinesischer Zeichen kein Hindernis sind. Aber das Prinzip, das diese Beispiele illustrieren, gilt nach wie vor: Die Technologie ist nicht neutral. Sie folgt Interessen und Standpunkten.
Bunt gemischte Städte
Dass es heute mehr Sprachen in schriftlicher Form gibt als in vordigitalen Zeiten, entspricht den Interessen der Digitalindustrie, die Wörter zu Waren macht, die sie verkauft, zum Beispiel um Algorithmen zu trainieren, an vorderster Stelle Englisch, die führende Sprache des Internets. Automatische Übersetzung hat in den letzten beiden Jahrzehnten spektakuläre Fortschritte gemacht. Angesichts der Vorreiterrolle amerikanischer Firmen in den Digitaltechnologien überrascht es nicht, dass Englisch zunächst die beste Zielsprache war und vielfach noch ist. Denn die Qualität der Übersetzungen hängt von der Menge der verfügbaren Texte ab, was wiederum bedeutet, dass sich der Aufwand, Programme zu schreiben, für viele kleine Sprachen nicht lohnt.
Soll die Vielfalt der menschlichen Sprachen marktabhängig sein? Heutzutage ist viel von bedrohten Sprachen die Rede und dass deren Verschwinden ein Verlust für die Menschheit sei. Solange das Internet keine gemeinnützige Infrastruktur ist, sondern von gewinnorientierten Firmen beherrscht wird, nimmt die sprachliche Vielfalt weiter ab, während gleichzeitig die Zahl der sichtbaren beziehungsweise schriftlich dargestellten Sprachen zunimmt.
Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Arbeitsmigration und andere Formen der Mobilität haben viele Städte des globalen Nordens sprachlich noch bunter gemacht, als sie es durch die Entkolonialisierung schon waren. In Paris werden mehr als 100 Sprachen gesprochen, in London mehr als 300, in Amsterdam mehr als 150 und selbst in Berlin um die 100. Um mit Familie, Freunden und Kollegen in Kontakt zu bleiben, benutzen die entsprechenden Gemeinschaften ihre Sprachen in den sozialen Netzwerken, so wie es eben geht. Normen spielen dabei keine grosse Rolle, und in vielen Fällen gibt es gar keine. Nicht alle kleinen Sprachen kann man wie etwa Schweizerdeutsch im Internet lernen, aber recht und schlecht kommunizieren kann man.
Da hilft die Technologie schon. Aber was sie für die Vielfalt der Sprachen bedeutet, ist schwer zu sagen. Wie viele Sprachen es gibt, weiss niemand, da das davon abhängt, wie man zählt: Deutsch und Bairisch, Serbisch und Kroatisch, Moldauisch und Rumänisch – jeweils eine oder zwei? Was wir wissen, ist, dass viele von ihnen mangels Schrifttums für Big Tech keine Rendite abwerfen und es deshalb in einer durchökonomisierten Weltordnung schwer haben, in Gebrauch zu bleiben.
Überdies trägt die digitale Kommunikationstechnologie dazu bei, dass die Bereitschaft, Fremdsprachen zu erlernen, abnimmt. Radebrechendes Englisch reicht doch. Alles, was neu ist, kommt sowieso aus dem Englischen zu uns; was soll man sich da mit Vokabeln und Konjugationen anderer Sprachen abquälen. Ausserdem haben wir ja den Übersetzungsalgorithmus. Nach wie vor ist Englisch mit über 50 Prozent weltweit die meistgenutzte Sprache im Internet, es folgen mit weitem Abstand Spanisch, 5 Prozent, Russisch, Deutsch, Französisch und Japanisch, alle unter 5 Prozent. Vor diesem Hintergrund wird es nicht einfacher, Schülerinnen und Schüler zum Lernen anderer Sprachen zu motivieren. Die letzten Apps aus dem Play Store sind doch viel wichtiger.
Die Frage, ob die positiven oder die negativen Aspekte der digitalen Wende für die menschliche Kommunikation überwiegen, ist müssig, da die Entwicklung sich nicht zurückdrehen lässt. Darüber nachzudenken, ist jedoch geboten, denn die Begeisterung für die Technologie der Freiheit, wie sie in ihrer Frühzeit gelegentlich genannt wurde, ist im Lichte der Diskriminierung von Sprachen nicht durch Menschen, sondern durch Algorithmen, ganz zu schweigen von Filterblasen, pathologischer Handysucht und der sich rasant entwickelnden Cyberkriminalität, abgeflaut.
Dass es heute mehr Sprachen in schriftlicher Form gibt als in vordigitalen Zeiten, entspricht den Interessen der Digitalindustrie.