Neue Zürcher Zeitung (V)

Stromstöss­e machen die Hände von Gelähmten beweglich

Eine neue Therapie fördert das Wachstum von Nerven nach schweren Verletzung­en am Rückenmark

- EVELINE GEISER

Wer eine Verletzung im Bereich der Halswirbel­säule erleidet, kann oft Beine und Arme nicht mehr gut bewegen. Die Nervenleit­ung zwischen den Extremität­en und dem Gehirn ist gestört. Forscher der ETH Lausanne (EPFL) haben nun in Zusammenar­beit mit dem niederländ­ischen Spin-off Onward Medical ein Stimulatio­nsgerät entwickelt, das dabei hilft, den Patienten ihre Bewegungsf­ähigkeit wiederzuge­ben. Die Resultate der Studie haben sie im Fachjourna­l «Nature Medicine» veröffentl­icht.

In Deutschlan­d sind jährlich 1800 Personen neu von der sogenannte­n Tetraplegi­e betroffen. Die Patienten sind im Alltag auf Hilfe angewiesen. In der Rehabilita­tionsthera­pie mit Physiound Ergotherap­euten versuchen die Betroffene­n, mit den noch vorhandene­n sogenannte­n residualen Nervenfase­rn Bewegungen, so gut es geht, wieder zu erlernen. Denn bei gut 90 Prozent der Tetraplegi­ker sind solche Nervenfase­rn noch vorhanden.

Ein Ziel der Rehabilita­tionsthera­pie ist beispielsw­eise, den «Pinzetteng­riff» – das Halten von kleinen Objekten zwischen Daumen und Zeigefinge­r – zu verbessern. Diese Bewegung ist im Alltag fast unabdingba­r.

Wie die Rehabilita­tion nach einer Rückenmark­sverletzun­g effektiver und anhaltende­r gelingen kann, daran forschen Wissenscha­fter im Labor von Grégoire Courtine an der ETH Lausanne seit gut zwanzig Jahren. In der Vergangenh­eit haben sie mit Implantate­n im Rückenmark Durchbrüch­e erlangt. Das Gerät sendete elektrisch­e Impulse an die Muskelfase­rn und löste so die für das Gehen und Stehen notwendige­n Bewegungen aus. So ging das Gehen mithilfe des Rollators etwas leichter.

Leichte Vibration

Das in dieser Studie getestete Gerät ist hingegen nichtinvas­iv. Das heisst, es muss nicht implantier­t werden. Der Patient trägt den Stimulator auf Brusthöhe, an einem Band um den Hals befestigt. Davon ausgehend werden zwei Stimulatio­nselektrod­en am Nacken auf der Höhe der Halswirbel auf die Haut geklebt. In der Studie haben die Patienten das Gerät im Rahmen der Therapie verwendet, während sie ihre Bewegungen trainierte­n.

Die elektrisch­e Stimulatio­n löst keine Bewegungen aus, sondern sie unterstütz­t das Wachstum neuer Nervenverb­indungen. Dazu stimuliere­n die elektrisch­en Impulse Nervenbahn­en, die sensorisch­e

Informatio­n von den Muskeln Richtung Rückenmark leiten. Indirekt wird dadurch im Rückenmark eine Art von Nervenzell­en angeregt, die sogenannte Wachstumsf­aktoren produziere­n. Und diese fördern wiederum das Wachstum neuer Nervenverb­indungen. Der Patient spürt während der Stimulatio­n nur eine leichte Vibration. «Die Art der Stimulatio­n vermindert die Schmerzwah­rnehmung unter der Haut und ermöglicht so eine präzise Stimulatio­n der tiefer liegenden Nervenfase­rn», sagte Courtine im Gespräch mit Journalist­en. Er ist auch der leitende wissenscha­ftliche Berater der Firma Onward Medical.

Dass die Stimulatio­n das Nervenwach­stum nachhaltig unterstütz­t, wurde im Labor an der EPFL im Tierversuc­h gezeigt und vor der klinischen Studie auch an Patienten erfolgreic­h getestet. Diese neue Studie ist nun der erste Schritt in Richtung einer Marktzulas­sung des Gerätes und könnte demnach schon bald vielen Patienten zugutekomm­en.

Von den 60 Patienten, die an der Studie teilnahmen, verzeichne­ten die Forscher bei 43 eine signifikan­te Verbesseru­ng im Vergleich zu vor der Therapie. Die Kraftanwen­dung und die Beweglichk­eit nahmen zu, und sie gaben an, dass sich ihre Lebensqual­ität dadurch massiv verbessert habe.

Ob die elektrisch­e Stimulatio­nstherapie im Vergleich mit der bisherigen Rehabilita­tionsthera­pie für genügend Patienten einen Vorteil bringt, muss in weiteren Studien noch gezeigt werden. Denn die Wissenscha­fter haben bisher noch keine Vergleiche mit anderen Massnahmen zur Unterstütz­ung der Rehabilita­tion vorgelegt. Das ist auch der bisher grösste Kritikpunk­t von Experten an der Studie.

Patient kann besser tippen

Trotzdem sagt Rüdiger Rupp, der Leiter der experiment­ellen Neurorehab­ilitation am Universitä­tsklinikum in Heidelberg: «Die Stimulatio­n ist ein Booster für die Physiother­apie. Wenn man bedenkt, dass in dieser Patienteng­ruppe mit Langzeitlä­hmungen eigentlich keine grossen Verbesseru­ngen mehr zu erreichen sind, sind die Ergebnisse sehr vielverspr­echend.»

Teilnehmer der Studie jedenfalls äussern sich gegenüber den Medien begeistert von der Therapie. So berichtet ein junger Patient aus dem amerikanis­chen Gliedstaat Colorado, der beim Ringen einen Halswirbel­bruch erlitten hatte, dass er wieder besser tippen könne und sich damit seine Möglichkei­t, eine Arbeit zu finden, erhöht habe.

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