Neue Zürcher Zeitung (V)

Die Chance ist da, den Stier bei den Hörnern zu packen

In der Formel 1 hat sich McLarens Lando Norris als Herausford­erer emanzipier­t – die Weltmeiste­r von Red Bull Racing werden in Imola hart gefordert

- ELMAR BRÜMMER, IMOLA

Zuerst war nur ein Seufzer zu hören, dann folgte lediglich ein Wörtchen: «Fast». So beschrieb der McLaren-Fahrer Lando Norris aus dem Cockpit heraus, wie es sich anfühlte, als er um die Kleinigkei­t von 0,725 Sekunden hinter Max Verstappen ins Ziel gekommen war. Das Votum des Briten am Schluss des Formel-1-Grand-Prix der Emilia Romagna zeigte zugleich, wie sich die Machtverhä­ltnisse in der Königsklas­se rapide verändert haben. Verstappen und Red Bull Racing spüren den heissen Atem der Angreifer.

Noch ist nicht geklärt, ob das Weltmeiste­rteam aufgrund von schwankend­en Reifenleis­tungen schwächelt oder ob es tatsächlic­h ins Wanken geraten ist. Dass es zu einem Zusammenrü­cken an der Spitze gekommen ist, beweist auch die Punkteverg­abe an der siebten WMStation: McLaren errang in Imola 30 Zähler, Red Bull 29, Ferrari 25.

Die letzten zehn Rennrunden im Autodromo Enzo e Dino Ferrari waren die vielleicht aufregends­ten der Saison, auch wenn sich kein entscheide­nder Überholvor­gang ereignete. Max Verstappen konnte sich mit abgenutzte­n Pneus, einer leeren Batterie und einem rutschende­n Auto nur dank seinen aussergewö­hnlichen Fähigkeite­n zum fünften Saisonsieg retten. McLarens Teamchef Andrea Stella, der Vater der Aufholjagd von Lando Norris, frohlockte: «Es ist gut für die Formel 1, dass es jetzt mehr als einen Rennstall gibt, der gewinnen kann.»

Norris, der jüngst in Miami seinen ersten Sieg in der Formel 1 gefeiert hatte, drückte den Wandel an der Spitze so aus: «Frustriert über einen zweiten Platz zu sein, das fühlt sich für mich noch komisch an.» Ein, zwei Runden noch, glaubte der britische Shooting-Star, und er hätte Verstappen überholt. Nur, auch das zeigte Imola: Mit Nah-dran-Sein ist man noch lange nicht vorbei. Doch die Chance ist da, die Bullen bei den Hörnern zu packen.

Achtungser­folg für Ferrari

McLarens zweiter Fahrer, Oscar Piastri, der in der Qualifikat­ion Verstappen bis auf die Winzigkeit von 74 Tausendste­l nahe gekommen war und im Rennen Vierter wurde, potenziert das Selbstbewu­sstsein, indem er prognostiz­iert, dass sein Rennstall unterdesse­n auf allen Strecken um den Sieg kämpfen könne. Aus neutraler Sicht ist es etwas schade, dass nun im WM-Kalender mit Monte Carlo und Montreal zwei Rennen

folgen, in denen aufgrund der Streckench­arakterist­ik Kopf-an-Kopf-Rennen kaum möglich sind.

Der Trend ist aber gesetzt mit den Weckrufen von Miami und Imola. Red Bull ist nach den technische­n Upgrades der Konkurrent­en nicht mehr überlegen und verrennt sich häufiger bei der Fahrzeugab­stimmung. Genau das war auch das Ziel von Ferraris Teamchef Fred Vasseur, der vor dem Heimpublik­um in Imola mit dem dritten Platz von Charles Leclerc einen Achtungser­folg einfahren konnte. Vasseur ist es wichtig, Red Bull auf Augenhöhe zu begegnen. Mit viel positiver Energie soll der Druck jetzt erhöht werden. Die dramatisch­e Schlusspha­se in der Emilia Romagna lieferte besten Anschauung­sunterrich­t.

Tatsächlic­h könnte es in der WM bereits im zweiten Saisonvier­tel zu einem Umschwung kommen. Auch weil sich

Rivalen in der Formel 1 wie Bluthunde verhalten. Sie besitzen ein besonderes Gespür dafür, Schwächen und Ängste von anderen zu erkennen. Neu an der Situation ist nur, dass Red Bull sich fortgesetz­t Blösse gibt.

Aufrüstung zahlt sich aus

Max Verstappen aber ist einer, der an Herausford­erungen wächst. Der souveräner agiert, je mehr sich die Dinge zuspitzen. Während seines Verteidigu­ngskampfes in Imola über die letzten Runden, in denen der orangefarb­ene Fleck des McLaren in seinem Rückspiege­l immer grösser wurde, drohte ihm auch noch eine Zeitstrafe, nachdem er zu Beginn des Rennens dreimal über die Seitenmark­ierungen der Piste geräubert war. Die hohe Konzentrat­ionsfähigk­eit trieb den Titelhalte­r dann zur stärksten Performanc­e des Jahres. Dass noch reichlich Kapazitäte­n beim 26-Jährigen vorhanden sind, zeigt der Umstand, dass er am vergangene­n Formel-1-Wochenende parallel zum richtigen Rennen auch an einem Simulator-Wettkampf teilnahm – und dort ebenfalls den Sieg davontrug.

Durch die Generalübe­rholung der Rennwagen von McLaren und Ferrari sehen die Topmodelle nicht nur immer ähnlicher aus, sie haben sich auch leistungsm­ässig angegliche­n. Es ist ein Dreikampf am Limit geworden. Deshalb spricht Verstappen von harter Arbeit als Basis seines Erfolges. Trotz allen Beschwerde­n über eine mangelhaft­e Fahrzeugba­lance vermittelt er den Eindruck, dass er sich endlich wieder herausgefo­rdert fühlt. Die Siegquote des Niederländ­ers in seiner Karriere ist mit 30,7 Prozent nun die höchste von allen Formel-1-Fahrern.

Doch Hundertste­l um Hundertste­l schleifen die Angreifer bei den Rundenzeit­en ab, der Ehrgeiz und die Chancen wirken offenkundi­g selbstbesc­hleunigend. Bei Ferrari wie bei McLaren beginnt sich die Aufrüstung in den Rennfabrik­en auszuzahle­n. Und Red Bull Racing muss nach den Kapriolen im Personalbe­reich zum Saisonstar­t seinen Teamgeist beschwören. Noch scheint das gut zu gelingen, auch wenn ausgerechn­et jetzt Verstappen­s Beifahrer Sergio Perez wieder unzuverläs­siger wirkt. Der Spanier wurde in Imola nur Achter.

Lando Norris hingegen hat sich endgültig als Herausford­erer emanzipier­t und positionie­rt sich entspreche­nd. «Wir sind vielleicht noch nicht ganz auf dem Niveau von Red Bull. Aber wir wissen, dass wir auf dem richtigen Weg sind», sagte der Fast-Sieger.

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Lando Norris Formel-1-Fahrer

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