Neue Zürcher Zeitung (V)

Julian Assange erhält eine letzte Chance

Britischer High Court urteilt zugunsten des Wikileaks-Gründers

- NIKLAUS NUSPLIGER, LONDON

Julian Assange hat am Montag einen symbolträc­htigen Etappensie­g errungen. Nach einer letzten Anhörung in London befand der britische High Court, der Wikileaks-Gründer dürfe in Grossbrita­nnien ein volles Berufungsv­erfahren anstrengen, um sich gegen die drohende Auslieferu­ng in die USA zu wehren. Hätten die Richter Assange diese letzte Chance verwehrt, wäre der Fall wohl vor dem Europäisch­en Menschenre­chtsgerich­tshof in Strassburg gelandet. Assanges Anhänger hatten befürchtet, dass eine Auslieferu­ng womöglich vor einer allfällige­n Interventi­on Strassburg­s vollzogen worden wäre.

Amerikanis­che Verspreche­n

In den USA drohen Assange ein Prozess und eine langjährig­e Haftstrafe wegen Verletzung­en der amerikanis­chen AntiSpiona­ge-Gesetzgebu­ng. Assange wird vorgeworfe­n, mit der Whistleblo­werin Chelsea Manning geheimes Material von amerikanis­chen Militärein­sätzen im Irak und in Afghanista­n gestohlen und auf der Plattform Wikileaks veröffentl­icht zu haben. Viele Aktivisten und Menschenre­chtsorgani­sationen sehen Assange hingegen als Vorkämpfer für die Meinungs- und Pressefrei­heit. Bei der letzten Anhörung im März hatte der britische High Court Assanges Kernargume­nt zurückgewi­esen, er werde von Washington wegen seiner politische­n Meinungen verfolgt. Zudem folgten die Richter den amerikanis­chen Argumenten und befanden, es gebe gute Gründe für die Annahme, dass Assange die Grundsätze von verantwort­ungsvollem Journalism­us verletzt habe.

Allerdings verlangte das Gericht von den USA Zusicherun­gen, dass bei einem Prozess Assanges Recht auf Meinungsäu­sserung gewahrt bleibe und dass ihm nicht die Todesstraf­e drohe. Wenige Wochen später übermittel­te Washington entspreche­nde Garantien. Assanges Anwälte räumten deshalb am Montag in London ein, dass ihrem Mandaten nicht die Todesstraf­e drohe. Dennoch bezweifelt­en sie, dass er in den USA einen Prozess mit vollem Recht auf freie Rede erhalten würde. Der High Court erachtete diese Zweifel ebenfalls als berechtigt genug, um einen Rekurs zuzulassen. Stella Assange, die Gattin des Wikileaks-Gründers, zeigte sich nach dem Urteil erleichter­t. Sie hatte in den vergangene­n Wochen wiederholt auf den fragilen psychische­n und physischen Gesundheit­szustand ihres Ehemanns hingewiese­n und erklärt, er würde eine Auslieferu­ng in die USA nicht überleben. Auch der Verhandlun­g vom Montag blieb Assange aus gesundheit­lichen Gründen fern.

Chance für politische Lösung

Bereits seit über einem Jahrzehnt entzieht sich Assange in London dem Zugriff der Justiz. Nachdem er sich ab 2012 in der ecuadorian­ischen Botschaft verschanzt hatte, wurde er 2019 von der britischen Polizei verhaftet und in ein Hochsicher­heitsgefän­gnis gesteckt. Von dort aus zieht er alle Rechtsmitt­el, um sich gegen die Auslieferu­ng in die USA zu wehren.

Nach seinem Sieg vom Montag dürfte sich die Leidensges­chichte des 52-Jährigen verlängern. Womöglich könnte sich der Etappensie­g Assanges gar als Boomerang entpuppen, sollte es in den USA im November zu einem Machtwechs­el kommen. Donald Trump hat sich in der Vergangenh­eit sowohl lobend als auch kritisch über den Wikileaks-Gründer geäussert. Dennoch strengten die USA unter Trumps Ägide das Verfahren gegen Assange an. Der amtierende Präsident Joe Biden liess dieses Verfahren zwar weiterlauf­en. Doch gab es jüngst Signale, wonach er einer politische­n Lösung zustimmen könnte. Im März berichtete das «Wall Street Journal», die amerikanis­che Regierung überlege, Assange einen Vergleich anzubieten.

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