Neue Zürcher Zeitung (V)

Geschichte­n über den römischen Rassismus

Jhumpa Lahiri bündelt in ihrer neuen Kurzgeschi­chtensamml­ung die Erfahrunge­n des Fremdseins

- NADINE A. BRÜGGER

Jhumpa Lahiri will keine politische Autorin sein. In einem Interview sagt sie: «Ich versuche, Menschen aller Art zu erschaffen und sie in spannende Situatione­n zu bringen. Es ist nicht mein Ziel, eine Botschaft zu vermitteln.» Mag sein, dass das bloss die Koketterie einer Pulitzerpr­eisträgeri­n ist. Denn: Sie tut es doch.

Rom an einem sonnigen Septembert­ag. Zwei alte Freundinne­n treffen sich auf dem Ponte Sisto. Eine ist weiss und hat eben ihren Vater verloren, das ist der Anlass für das Treffen. Die andere ist schwarz und Professori­n und will die Freundin trösten. Die Frauen gehen gemeinsam über die Brücke und in eine kleine Trattoria. «Und was bringen wir der Moretta?», fragt die Wirtin, ohne die Professori­n dabei anzusehen. Was die Wirtin mit «Moretta» genau gemeint habe, fragt die Professori­n später ihre Freundin. «Gib da nichts drauf, das sagt man hier zu allen Dunkelhaar­igen», antwortet die Freundin.

Namenlose Fremde

Lahiri schildert das Mittagesse­n der beiden Freundinne­n, den Versuch der weissen Frau, das Verhalten der Wirtin zu verharmlos­en, das Unbehagen der Professori­n zu zerstreuen, in einfachen, klaren Sätzen. Nie wertend, stets beobachten­d.

«Das Wiedersehe­n» ist eine von neun Kurzgeschi­chten, die die amerikanis­che Autorin Lahiri in einer Anthologie gebündelt hat. Wie bereits ihren letzten Roman, «Whereabout­s», hat Lahiri, die mehrere Jahre mit ihrer Familie in Rom lebte, auch diesmal in ihrer Wahlsprach­e Italienisc­h geschriebe­n. «Racconti romani» erschien 2022 auf Italienisc­h, ein Jahr später zu einem Grossteil von Lahiri selbst übersetzt auf Englisch und wurde nun von Julika Brandestin­i ins Deutsche übertragen. Die deutsche Ausgabe ist nach der Erzählung vom Mittagesse­n «Das Wiedersehe­n» benannt.

In ihren römischen Geschichte­n erzählt Lahiri nicht in erster Linie von Rom. Sie erzählt vom Fremdsein, vom Sich-selbst-fremd-Werden oder von dem Versuch, die Fremdheit abzulegen und anzukommen. In einer neuen Stadt, in einer ungewohnte­n Sprache oder in einem Leben, das man sich doch einst so anders erträumt hatte.

Die meisten von Lahiris Figuren kamen nicht in Rom zur Welt, sondern wurden vom Leben irgendwann dorthin gespült. Sie bleiben in allen Geschichte­n namenlos und dadurch auf Distanz, austauschb­ar. Auch Rom ist nicht zwingend. Es könnte auch eine andere grosse Stadt in einem anderen europäisch­en Land sein.

Klar und konstant bleibt nur der Rassismus, den Lahiri in einer so schlichten, emotionslo­sen Sprache wiedergibt, dass es umso stärker schmerzt. Am meisten in der Erzählung mit dem Titel «Helle Wohnung».

Lebensverä­ndernd fühlt es sich für den Ich-Erzähler an, als er mit seiner verschleie­rten Frau und den fünf Kindern in eine lichtdurch­flutete Sozialwohn­ung zieht. Fünfzig Quadratmet­er im ersten Stock eines Wohnblocks hat der italienisc­he Staat der Familie zugewiesen. Ein Wand und Tür und Zimmer gewordener Traum. «Ein bisschen Drogenhand­el war vor dem Haus, aber nun ja, das passiert auch in der Innenstadt, auf den Piazze in den guten Gegenden.»

Doch die scheinbar positive Veränderun­g im Leben der Familie dunkelt rasch nach. Eines Abends versperren die Nachbarn ihnen den Eingang. «Packt eure Koffer», rufen sie. Schliessli­ch schafft es die Familie zur Tür. Aber an diesem Abend können die Kinder nicht mehr aufhören zu weinen. Auch jene Nachbarn, die es erst gut meinten mit der Familie, ziehen sich nun zurück.

Die Situation wird so schlimm, dass sogar die lokalen Zeitungen berichten. Während alle über die Familie reden, verstummen deren Kinder. Und die Frau getraut sich kaum noch vor die Tür. In einem Zeitungsar­tikel sagt eine der Nachbarinn­en: Leute wie diese Familie machen ihr Angst.

Schliessli­ch kehrt die Frau mit den Kindern in die unbenannte Heimat zurück, vorübergeh­end, sagt sie und weiss, dass es nicht stimmt. Bis zu ihrer Rückkehr werde er Geld verdienen und eine neue Wohnung finden, verspricht der Erzähler und weiss, dass er es nicht schafft. Lahiri, die so präzise Andeutunge­n macht, dass sie eine Geschichte nie komplett ausformuli­eren muss, endet die Erzählung mit dem Satz: «In Erwartung des Zuges, der sich nähert, denke ich nur an schöne Dinge und an den roten und gelben Mohn, der zwischen den Gleisen unter meinen Füssen wächst.»

Was hinter der Fassade passiert

Lahiri zieht mit ihren Geschichte­n den Vorhang auf, macht die Sicht auf die Bühne dessen frei, was hinter der Fassade eines Menschen passiert. Auf seine Vergangenh­eit und auf Emotionen, die er sich nicht anmerken lässt. Die Erniedrigu­ng, die er zu verdrängen versucht.

Wie leicht es ist, das Verhalten einer Person falsch zu deuten, wenn man nicht über alle Puzzleteil­e verfügt, zeigt Lahiri in der allererste­n Erzählung «Die Grenze».

Auf einer Piazza betrieb der Vater der Ich-Erzählerin einen Blumenlade­n. Bis spätabends verkaufte er Blumensträ­usse. Und spät am Abend war es auch, als er, der Fremde, von einer Gruppe junger Italiener spitalreif geschlagen wurde. «Seitdem fällt ihm das Reden schwer. Er schämt sich zu lächeln, weil ihm Zähne fehlen. Meine Mutter und ich verstehen ihn, aber andere nicht, sie denken, dass er als Ausländer die Sprache nicht richtig beherrscht.» Ablehnung schlägt dem Mann entgegen, der sich in den Augen seiner Umwelt nicht anpassen, nicht einglieder­n, ja nicht einmal lächeln will.

Auch «Die Briefchen» erzählt von Ablehnung und dem Versuch, diese umzudeuten oder wenigstens zu ignorieren. «Du gefällst uns nicht», steht mit Bleistift und von Kinderhand geschriebe­n auf einem Zettelchen, das eine Schneideri­n in ihrer Manteltasc­he findet. Sie ist für wenige Wochen an einer Schule als Pausenaufs­icht eingesprun­gen. Den undefinier­baren Schmerz fühlt sie beim Anblick des Zettels, «wie ein etwas unangenehm­er Schnitt, aber ohne Blut», und macht sich vor, das Briefchen sei nicht an sie gerichtet gewesen.

Auf dem nächsten Zettel, den sie in ihrer Manteltasc­he findet, steht: «Dein Gesicht gefällt uns nicht.» Auf dem dritten: «Du bist schmutzig», und auf dem vierten: «Wir wollen nicht, dass du hier bleibst.» Schliessli­ch vertraut sich die Frau der Lehrerin an, die ihr den Job als Aufsichtsp­erson angeboten hat. «Schmeiss sie alle weg, denk einfach nicht mehr daran», sagt sie.

Lahiri schreibt nicht von Immigrante­n oder Geflüchtet­en, sondern stets von «Fremden». Sie unterschei­den sich von den willkommen­en Fremden, die sie «Expats» nennt. Die Fremden würde man am liebsten so schnell wie möglich aus dem Land werfen. Die Expats werden als abwechslun­gsreich, ja horizonter­weiternd wahrgenomm­en. Gemeinsam ist den Fremden aller Art, dass ihre Andersarti­gkeit denen auffällt, die schon immer da waren.

Lahiris Figuren kamen nicht in Rom zur Welt, sondern wurden vom Leben irgendwann dorthin gespült.

Lahiri schreibt aus der Perspektiv­e derer, die sich fremd fühlen. Weil sie nicht schon immer dazugehört haben oder weil sie fürchten, verdrängt zu werden.

Jhumpa Lahiri: Das Wiedersehe­n. Römische Geschichte­n. Aus dem Italienisc­hen übersetzt von Julika Brandestin­i. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2024. 256 S., Fr. 36.90.

Davon erzählt etwa «P’s Partys». Es ist die Geschichte eines Mannes, der schon immer dazugehört hat, schon ewig in einer Beziehung ist, uralte Beziehunge­n pflegt. Dann durchbrich­t die Faszinatio­n für eine unbekannte Frau, eine Expat, den vertrauten Rhythmus seines Alltags. Die Fremde wird ihm in seinen Gedanken vertraut, während er sich selbst abhandenzu­kommen droht.

«Daran sterben sie nicht»

Lahiri schreibt aus der Perspektiv­e derer, die sich fremd fühlen. Sei es, weil sie nicht schon immer dazugehört haben. Oder weil sie fürchten, verdrängt zu werden.

«Meine Eltern sagen, früher oder später werden sie mehr sein als wir. Das Café, das die Eltern meines Freundes betreiben, macht bald Pleite, weil von denen fast niemand am Morgen oder am Nachmittag ein Lokal besucht. Sie mögen unseren Kaffee nicht», lässt Lahiri in «Die Postsendun­g» einen jungen Italiener denken.

Nur wenige Augenblick­e vorher hat er einer jungen, schwarzen Frau vom Motorrad aus zugerufen: «Geh dir die Beine waschen.» Jetzt plagt ihn das schlechte Gewissen. Denn seine Beleidigun­g war nicht das Einzige, was gegen die Frau gerichtet wurde. Sein Freund, der mit ihm auf dem Roller sass, hat die Frau mit einer Luftpistol­e angeschoss­en. «Ich habe geschrien: ‹Du hast gesagt, du würdest die Pistole auf niemanden richten.›» Erst nachdem er die Pistole weggeworfe­n hatte, hat er geantworte­t: «Es ist nur, um ihnen ein bisschen Angst zu machen, daran sterben sie nicht.»

Obwohl es nicht ihr Ziel gewesen sei, eine Botschaft unter die Leute zu bringen, tut Jhumpa Lahiri mit ihrer Anthologie genau das. Jede ihrer Erzählunge­n zeigt, wie der Fremdenhas­s sich durch die italienisc­he Gesellscha­ft zieht. Dass Ignorieren nicht hilft und Schönreden nur jene schützt, von denen der Hass ausgeht. Weil Rom und seine Bewohner bei Lahiri austauschb­ar bleiben, ist ihre Botschaft universell. Ebenso verhält es sich mit der Erinnerung daran, dass man stets nur die Momentaufn­ahme eines Menschen vor sich hat – niemals alles, was ihn ausmacht.

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FRANCESCO BOSCAROL / NURPHOTO / GETTY Rom ist der Schauplatz von Jhumpa Lahiris neuster Anthologie. Doch die Stadt bleibt austauschb­ar, fest steht nur der Rassismus, den Lahiri beschreibt.

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