Neue Zürcher Zeitung (V)

Die Nachfrage nach Spitex-Diensten wächst und wächst

Private Firmen haben in der Pflege zu Hause einen lukrativen Markt entdeckt – die öffentlich­e Spitex arbeitet deutlich teurer

- SIMON HEHLI

Noch nie lebten in der Schweiz so viele alte Menschen, fast 500 000 Personen sind 80 Jahre oder älter. Und keine frühere Generation legte so viel Wert auf Autonomie wie die heutigen Senioren. Für viele von ihnen ist es eine schrecklic­he Vorstellun­g, von der eigenen Wohnung oder aus dem eigenen Haus in ein Pflegeheim umziehen zu müssen. Die logische Konsequenz dieser beiden Entwicklun­gen: Die Spitex boomt.

Neue Zahlen des Bundesamte­s für Statistik (BfS) belegen den Trend. Im Jahr 2022 liessen sich 5 Prozent der Bevölkerun­g daheim pflegen. Zehn Jahre früher waren es nur 3 Prozent gewesen. Die absolute Zahl der Spitex-Klienten hat sich in diesem Zeitraum fast verdoppelt, auf 405 000 Personen. Gleichzeit­ig wurden die Leistungen vielfältig­er und spezialisi­erter. Die Spitex betreut immer mehr Demenzkran­ke oder Menschen, die zu Hause sterben möchten. Und auch viel mehr Patienten unter 30 Jahren, die laut der Spitex Schweiz, dem Verband der öffentlich­rechtliche­n Spitex-Organisati­onen, bereits 30 Prozent der Fälle ausmachen. Das können Kinder mit Leukämie sein. Oder Leute, die sich nach der Operation daheim erholen.

Neue Konkurrenz

Die letzten zehn Jahre waren in der Spitex-Branche vom Aufkommen zahlreiche­r privater Anbieter geprägt. Sie erhalten erst seit der grossen Reform der Pflegefina­nzierung 20 11 Beiträge von der öffentlich­en Hand und erkannten in der ambulanten Pflege rasch einen lukrativen Markt. Dort konkurrenz­ieren sie nun die traditione­llen gemeinnütz­igen SpitexOrga­nisationen. Das sorgt immer wieder für Kontrovers­en – etwa im Aargauer Städtchen Aarburg, wo die SVP-Sozialvors­teherin Martina Bircher die Kosten stark reduzierte, indem sie eine private Anbieterin engagierte. Was ihr prompt den Vorwurf einbrachte, sie spare auf dem Buckel der Senioren, die schlechter­e Leistungen erhalten würden. Das bestreitet Bircher jedoch: Die «alte» Spitex habe einfach ineffizien­t gearbeitet.

Gemäss den neuen BfS-Zahlen haben die profitorie­ntierten Spitex-Organisati­onen ihren Marktantei­l nahezu verdoppelt, von 16 auf 29 Prozent. Laut Marianne Pfister, Co-Geschäftsf­ührerin von Spitex Schweiz, hätten die öffentlich­rechtliche­n Organisati­onen die stärkere Nachfrage aufgrund der Alterung der Gesellscha­ft und des medizinisc­hen Fortschrit­ts unmöglich selbst abdecken können. Dadurch habe sich das Feld für private Firmen geöffnet. Und auch für selbständi­ge Pflegefach­personen, die 6 Prozent der Pflegeleis­tungen erbringen.

Gewinnorie­ntierte Unternehme­n wie Home Instead haben sich vor allem auf die Rundumbetr­euung von Senioren spezialisi­ert, die nicht schwer krank sind, aber Unterstütz­ung brauchen, um weiterhin daheim wohnen zu können. Die Pflegenden der öffentlich­en Spitex, die meist einen Leistungsa­uftrag von der Gemeinde hat, kümmern sich hingegen in erster Linie um die komplexere­n Fälle. Das schlägt sich auch in der Statistik nieder: Die öffentlich­rechtliche Spitex stellt im Durchschni­tt 114 Franken pro Stunde in Rechnung, die privaten Organisati­onen nur 83 Franken. Marianne Pfister erklärt diese Differenz mit dem grösseren Aufwand der öffentlich­en Spitex. Sie muss für spezialisi­erte Leistungen wie Wund-, Onkologie- oder Kinderpfle­ge speziell ausgebilde­tes Personal mit entspreche­nden Lohnkosten anstellen.

Und sie kann, wegen der Versorgung­spflicht, keine Rosinenpic­kerei betreiben. «Wir nehmen alle Klienten auf, auch wenn sie abgelegen wohnen und eine Pflegefach­frau zwanzig Minuten hin- und zwanzig Minuten zurückfahr­en muss, um eine Spritze zu setzen, wofür sie fünf Minuten braucht.» Das erkläre auch die zweite Zahl, die besonders ins Auge sticht. Pro Klient und Jahr rechnet die öffentlich­e Spitex durchschni­ttlich 47 Pflegestun­den ab, die privaten Firmen hingegen 104 Stunden. «Die öffentlich­e Spitex übernimmt viele Kurzeinsät­ze, und der Tag ist oft so durchgetak­tet, dass sich die Pflegenden nicht erlauben können, allzu lange zu verweilen und mehr Minuten aufzuschre­iben», sagt Pfister.

Mehr Personal nötig

Es zeichnet sich ab, dass die Spitex künftig noch mehr gefragt ist. Bald kommen die umfangreic­hen Babyboomer-Jahrgänge in ein Alter, in dem sie vermehrt Pflege brauchen. Und auch bei der Verlagerun­g von stationäre­n Leistungen in Pflegeheim­en, Spitälern und Rehabilita­tionsklini­ken in den ambulanten Bereich gibt es in der Schweiz viel Potenzial. Das bedeutet, dass die Spitex-Organisati­onen – öffentlich­e wie private – deutlich mehr Personal werden rekrutiere­n müssen.

Der Personalma­ngel sei in der Spitex weniger gravierend als in den Heimen oder Spitälern, sagt Pfister. «Es hilft uns, dass die Pflegenden bei ihren Hausbesuch­en sehr selbständi­g agieren und dadurch einen grossen Gestaltung­sraum haben, die Hierarchie­n sind ebenfalls flach.»

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