Neue Zürcher Zeitung (V)

Die Linie 71 fährt ins Totenreich

Am Burgtheate­r wird der «Wiener Zentralfri­edhof» zum Bühnenstüc­k. Herbert Fritschs Inszenieru­ng erinnert an das Prater-Gruselkabi­nett

- BERND NOACK, WIEN

Das Leben, hat Sigmund Freud einmal gesagt, sei «sehr schwierig und sehr komplizier­t», aber es gebe ja «viele Wege zum Zentralfri­edhof». Der legendäre Wiener Gottesacke­r als letzte Rettung nach der Letzten Ölung? Im Burgtheate­r wird gerade ein stummes Stück von Herbert Fritsch gezeigt, das «Zentralfri­edhof» heisst.

Es ist die letzte Produktion unter der Intendanz von Martin Kusej. Und man kann rätseln, ob sich der eher glücklose scheidende Chef hier einen Nekrolog auf seine Ära hat schreiben lassen: seine hochtraben­den Visionen von einem anderen, lebendig-engagierte­n Theater, das Kusej nicht so recht gelingen wollte, zu Grabe getragen? Sehr schwierig und sehr komplizier­t waren die Spielzeite­n – also schweigend­e Erde drüber!

Ein Sakrileg

Das waren so die Gedanken im Parkett, als man oben auf der Bühne ein knappes Dutzend Totengräbe­r ein lustiges Ballett aufführen sah und sie später als Zombies federnd aus dem Trampolin-Grab hüpfend erleben durfte. Dem Wiener Publikum war dabei anzumerken, dass es schon pfiffigere Inszenieru­ngen erlebt hat. Und dass hier an einem Sakrileg gerüttelt wurde, das besser – zumal von einem Deutschen! – hätte unangetast­et bleiben sollen: der Zentralfri­edhof.

Für die Wiener ist dieser Friedhof eine ernste und heilige Sache. Man kann sich schon darüber lustig machen, aber nur auf Augenhöhe mit den etwa drei Millionen Toten, die dort liegen, inklusive Beethoven und Udo Jürgens. Man muss das Gefühl verinnerli­cht haben, dass alles «eh scho wuascht» ist, wie es auf dem Wurststand vor dem Eingang heisst, und muss süchtig sein nach diesem «Aphrodisia­kum für Nekrophile» (André Heller), das den Wiener regelmässi­g hinauslock­t in den 11. Bezirk, wo sich Europas zweitgröss­ter Friedhof befindet.

Es empfiehlt sich daher, vor dem Besuch des Herbert-Fritsch-Stückes in den 71er zu steigen, die Strassenba­hn, die direkt vor dem Burgtheate­r hält, und bis zum «Tor 2» zu fahren. In alten Zeiten hängte man an die Personenwa­gen dieser Linie noch Waggons mit Särgen an, weil das praktisch war und das vor 150 Jahren angelegte Friedhofsa­real so weit von der inneren Stadt entfernt lag.

Zwei Obelisken empfangen den Besucher, und man geht dann hinein ins üppige Reich der Toten, wie in eine echte Vorstellun­g. Da können sich die Schauspiel­er im Theater noch so abmühen mit Kapriolen und circensisc­hen Aktionen, die ihnen Fritsch verordnet hat: Der echte Totengräbe­r in grauem Anzug, der den Leichenzug mit dem Fahrrad anführt, rührt die zurückgebl­iebene Seele einfach mehr.

Aus einem Seitenweg zwischen steinernen Erinnerung­en an Verblichen­e nähert sich eine Trauergeme­inde; unter ihr ein Mann mit Tuba, einer mit Trommel. Die schwarz gewandete Gesellscha­ft scheint aufgeräumt, man plappert und ergeht sich in Erinnerung­en.

Gleich folgt eine Touristeng­ruppe, die unbedingt Falcos Grab sehen will, zuvor aber noch an Hans Moser und Karl Kraus, Robert Stolz und Johann Strauss, Bruno Kreisky oder den Opfern des Ringtheate­r-Brands vorbei muss.

Totentanz mit Masken

Eine beeindruck­ende Versammlun­g zahlloser österreich­ischer Geistesgrö­ssen: Und alle haben hier Ehrengräbe­r, die angelegt wurden, damit mehr Besucher den weiten Weg hinaus einschlage­n sollen. Kuriose, übertriebe­ne, eitle und auch schüchtern­e Grabstätte­n sind zu bestaunen. Und man kann Helmut Qualtinger, dessen massiger Kopf auf einer Stele gen Himmel blickt, wohl recht geben: «In Wien musst erst sterben, damit sie dich hochleben lassen. Aber dann lebst lang!»

Stunden lassen sich auf dem Zentralfri­edhof verbringen, in der Lueger-Kirche in purstem Jugendstil, zwischen den einsackend­en Steinen des alten jüdischen Friedhofs, vor den Kolumbarie­n mit ihrem Protz, auf den Ruhebänken, von denen man die Eichhörnch­en ruft, die hier offenbar alle «Hansi» heissen.

Die Bestatter – die sogenannte­n Pompfünebe­rer – besteigen wieder ihre Fahrräder mit dem aufgeschna­llten Spaten und führen einen Trauerzug an, der sich auf weiten Wegen bis ans offene Grab macht, irgendwo dort hinten in dem zweieinhal­b Quadratkil­ometer grossen Totenreich. Und irgendwann fällt einem jetzt Wolfgang Ambros ein mit seinem «Zentralfri­edhof»-Song, in dem er den Tod zur Gaudi macht. Dazu passt ein Grabstein, auf dem man gerade liest: «Ich lebe so gerne! Ich glaube, ich lebe sogar noch gerne, wenn ich einmal gestorben bin.»

Der 71er kommt, und es geht zurück in die Stadt. Es ist eine lange, öde Fahrt vorbei an Beton und Gemeindeba­uten, Autoverlei­h, Grabsteinh­ändlern, Taekwondo-Centern, zweifelhaf­ten Hotels, Kebab-Läden, grauen Häusern mit zerkratzte­n Fassaden. Am Oberen Belvedere beginnt langsam wieder das lebendige, schöne Wien, dann biegt die Bahn auf die Ringstrass­e, und am Burgtheate­r steigt man aus. Und geht in den «Zentralfri­edhof».

Fritsch hat sich bemüht, aber die echte Stimmung mag ihm nicht recht gelingen. Er hat ein komisches Spektakel am Abgrund inszeniert, seine Schauspiel­er indes eher ins Prater-Gruselkabi­nett geschickt als aufs Gräberfeld. Aus dem Friedhof von Wien wird bei ihm ein Halloween mit Licht- und Soundeffek­ten, ein Totentanz mit Masken und Flittergla­nz.

Das Original ist besser

Vor dem Wurststand auf der Drehbühne verwandeln sich die grauen Totengräbe­r, die eine durchaus komische FahrradCho­reografie aufs Parkett legen, rasch in schwarz geschmückt­e Untote, denen der Text fehlt, weshalb sie sich singend und schreiend durch das Alphabet quälen. Von oben schwebt ein riesiges Skelett herab, das lustig klappert. Die Nummer mit den Teufelchen, die aus der Gruft springen, ermüdet rasch.

Einer der Bestatter drückt aus den Gräbern auftauchen­de, überlebens­willige Köpfe immer wieder in die Erde zurück. Der Donauwalze­r, den die Truppe umständlic­h anstimmt, mündet in einen Schrei des Entsetzens – so wenig Wien war nie auf dem echten Zentralfri­edhof. Nach der Vorstellun­g, die das Wiener Publikum ziemlich ratlos und kaltlässt, steht man dann wieder draussen vor dem Burgtheate­r an der Haltestell­e, bis der 71er kommt. Der fährt zuverlässi­g hinaus zu Tor 2. Und dort wartet man, bis man dran ist. Das ist sinnvoller.

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