Neue Zürcher Zeitung (V)

«Solche Bilder anzuschaue­n, ist manchmal schwer zu ertragen»

Staatsanwä­ltin Ines Meier hat vermehrt mit Gewaltdeli­kten zu tun – die Hemmschwel­le zum Einsatz von Messern ist gesunken

- Interview: Jan Hudec

Die Zürcher Staatsanwa­ltschaft versinkt in Arbeit. Zum zweiten Mal in Folge sind die Fallzahlen gestiegen. Über 32 000 Geschäfte seien im vergangene­n Jahr eingegange­n. Dies hat die Staatsanwa­ltschaft am Donnerstag im Rahmen einer Medienkonf­erenz bekanntgeg­eben. Gegenüber 2021 entspricht dies einer Steigerung von 15 Prozent. Mit mehr Personal ist es der Staatsanwa­ltschaft zwar gelungen, mehr Fälle abzuarbeit­en, aber mit dem Wachstum kommt sie trotzdem nicht nach. Die einzelnen Staatsanwä­lte im Kanton sitzen deshalb auf einem Pendenzenb­erg von bis zu 100 Fällen.

Gestiegen sind die Fallzahlen in verschiede­nen Bereichen: Strassenve­rkehrs-, Vermögens- und auch Gewaltdeli­kte. Ines Meier ist Leitende Staatsanwä­ltin der Staatsanwa­ltschaft I. Diese ist spezialisi­ert auf die Verfolgung schwerer Gewaltkrim­inalität.

Frau Meier, die Gewaltstra­ftaten nehmen zu, das zeigen auch die Kriminalit­ätsstatist­iken der Polizei. Beobachten Sie bestimmte Trends?

Es sind immer häufiger junge Erwachsene an schweren Gewaltdeli­kten beteiligt, also Menschen um die 20. Immer mehr Personen nehmen heute ein Messer mit in den Ausgang, die Schwelle, dieses einzusetze­n, scheint gesunken zu sein. Das ist eine erschütter­nde Entwicklun­g.

Wie reagieren Sie darauf?

Unsere Aufgabe ist es, die Tat aufzukläre­n und die Beschuldig­ten zur Rechenscha­ft zu ziehen. Bringen wir junge Erwachsene vor Gericht, kommt allen Beteiligte­n eine besondere Verantwort­ung zu. Denn wir haben es mit Menschen zu tun, die an einem richtungsw­eisenden Punkt in ihrer Entwicklun­g stehen. Es liegt im gesellscha­ftlichen Interesse, sie von der schiefen Bahn zu holen.

Was können Sie als Staatsanwä­ltin tun?

Wir hatten es kürzlich mit einer jungen

Frau zu tun, die jemanden mit einer Flasche auf den Kopf geschlagen hat. Glückliche­rweise blieben die Verletzung­sfolgen gering, aber der Schlag hätte ohne weiteres auch einen Schädelbru­ch zur Folge haben können. Diese junge Frau ist in der Lehre und lebt in gefestigte­n Strukturen. Zudem ist sie vorher noch nie straffälli­g geworden. In solchen Fällen ist eine differenzi­erte Betrachtun­gsweise angezeigt.

Was heisst das?

Es gilt abzuwägen, was sinnvoller ist: dem Gericht eine unbedingte Freiheitss­trafe zu beantragen und damit einen Lehrabschl­uss zu verunmögli­chen. Oder eine bedingte Freiheitss­trafe, dafür verbunden mit einer mehrjährig­en Probezeit.

Können Sie sich erklären, warum die Gewalt zunimmt?

Darauf gibt es keine einfache Antwort. Zwei Themenbere­iche beschäftig­en uns besonders: Das ist einerseits die häusliche Gewalt, und anderersei­ts sind das Gruppendel­ikte, bei denen mehrere Personen aufeinande­r losgehen oder mehrere Täter auf ein Opfer einprügeln.

Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Grosse Schlägerei­en mit vielen Beteiligte­n

sind oft sehr aufwendig. Einerseits binden sie viel Personal, anderersei­ts ist es häufig schwierig, herauszufi­nden, wer die Haupttäter sind.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Wir haben mehrmals pro Woche mit Fällen zu tun, bei denen einem Opfer gegen den Kopf getreten wurde. Das Opfer hält in einem solchen Fall meist die Arme schützend vor den Kopf und sieht also nicht, welcher der Beteiligte­n ihn getreten hat. Oft werden solche Gewalttate­n aufgezeich­net. Solche Bilder anzuschaue­n, ist manchmal schwer zu ertragen. Aber sie können helfen, die Haupttäter zu überführen. Fehlen solche Beweise, kann es schwierig werden. Vor allem, wenn die Beschuldig­ten nicht aussagen.

Die Bekämpfung der häuslichen Gewalt ist ein Schwerpunk­tthema, das der Regierungs­rat vorgegeben hat. Was tun Sie, um solche Fälle zu verhindern?

Das Thema beschäftig­t alle involviert­en Behörden seit Jahren intensiv. Wir haben inzwischen ein breites Instrument­arium, das wir einsetzen. Wir Staatsanwä­ltinnen

und Staatsanwä­lte wurden in diesem Bereich eingehend geschult und arbeiten in solchen Fällen interdiszi­plinär mit Spezialist­innen und Spezialist­en zusammen; beispielsw­eise mit forensisch­en Psychologe­n, die für uns Gefahrenei­nschätzung­en machen, oder dem polizeilic­hen Bedrohungs­management. Es gibt auch Lernprogra­mme, in die wir gewaltbere­ite Partner schicken können.

«Unsere zahlreiche­n Massnahmen, mit denen Gewalttate­n verhindert werden konnten, erscheinen in keiner Statistik.»

Trotzdem bleibt die Zahl der Tötungsdel­ikte im häuslichen Bereich über die Jahre etwa gleich. Eine Trendwende zeigt sich nicht.

Unsere zahlreiche­n Massnahmen, mit denen Gewalttate­n verhindert werden konnten, erscheinen in keiner Statistik. Wir sehen immer wieder, dass beispielsw­eise Lernprogra­mme zu positiven Verhaltens­änderungen bei Tätern führen. Aber es ist leider auch eine Tatsache, dass wir nicht alles verhindern können. Es gibt Fälle, die passieren aus Sicht der Behörden absolut ohne Vorwarnung.

Am 1. Juli tritt das neue Sexualstra­frecht in Kraft. Neu gilt der Grundsatz: Nein heisst Nein. Wird es mehr Anzeigen geben?

Das kann durchaus sein. Neu muss der Täter nicht mehr Gewalt oder Drohungen eingesetzt haben, damit es sich um eine Straftat handelt. Es reicht, wenn das Opfer durch Worte, Gesten oder auch Erstarren zeigt, dass es die sexuellen Handlungen ablehnt. Ob es am Ende aber auch zu mehr Verurteilu­ngen kommt, ist offen. Denn das Kernproble­m bleibt: Sexualdeli­kte spielen sich meist unter vier Augen ab. Die Schwierigk­eit, die Tat nachzuweis­en, besteht weiterhin.

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ANNICK RAMP / NZZ Junge Erwachsene im Zürcher Hauptbahnh­of. Die Gewaltdeli­kte in dieser Altersgrup­pe nehmen zu.
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Ines Meier Leitende Staatsanwä­ltin

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