Neue Zürcher Zeitung (V)

Ready für Sex?

Das Bundesamt für Gesundheit hat eine neue Kampagne lanciert, um die Verbreitun­g von sexuell übertragba­ren Krankheite­n einzudämme­n

- MARC TRIBELHORN

Ein Mann und eine Frau beim Zelten im Wald. Ein Mann beim Beziehen des Betts. Eine Frau beim Schminken und ein Mann beim Posieren vor dem Spiegel: Ready? Willkommen zur neuen Prävention­skampagne des Bundesamts für Gesundheit! Die Sujets sollen auf den Schutz vor sexuell übertragba­ren Infektione­n aufmerksam machen. Nicht nur vor HIV oder Hepatitis B und C, sondern auch vor Ansteckung­en, die weniger bekannt sind, aber in den vergangene­n Jahren dramatisch viel häufiger registrier­t worden sind als früher. Im Jahr 2022 meldeten die mikrobiolo­gischen Labors des Landes über 5000 Fälle von Gonorrhö, über 13 000 Fälle von Chlamydien – und über 1000 Fälle von Syphilis, einer UraltLusts­euche. Experten gehen von einer hohen Dunkelziff­er aus.

Und so fokussiert das Bundesamt für Gesundheit (BAG) nun auf «persönlich­e, risikobasi­erte Schutz- und Testempfeh­lungen», die man auf der Website von «Love Life» (wie die nationale Kampagne seit 2005 heisst) in Erfahrung bringen kann: «Mach deinen Safer-Sex-Check», lautet das Motto, danach sei man «ready» für Sex. Wie wichtig die «Sensibilis­ierung» noch immer ist, belegt das BAG gleich selbst – mit einer repräsenta­tiven Umfrage zum Thema «Safer Sex»: Fast 80 Prozent der Befragten wissen laut dieser Bescheid über HIV, aber weniger als 50 Prozent über die restlichen sexuell übertragba­ren Infektione­n. Aufklärung tut also not, zumal das Kondom nicht vor allen Ansteckung­en gleich zuverlässi­g schützt.

Werbung als Wagnis

Doch hier beginnt nicht nur die Kampagne, sondern auch ihr Problem: Sie ist in ihrer ganzen Bravheit ein Abbild des hypersensi­blen Zeitgeists. Und damit eine Abkehr des alten Erfolgspri­nzips, um das uns die Gesundheit­sbehörden anderer Länder jahrzehnte­lang beneidet haben: Werbung als Wagnis – direkt, anzüglich, provokativ.

Los ging es Mitte der 1980er Jahre mit der Bekämpfung der Aids-Epidemie, später als anderswo, dafür mit Wumms. Das Logo «Stop Aids» war 1987 zugleich genialer Slogan, und mit dem aufgerollt­en rosa Kondom wurde fortan jedes ohaltige Wort zur potenziell­en Prävention­sbotschaft: «ok», «bravo» oder «tonight». Das war im besten Sinn Anleitung zur Eigenveran­twortung in einem Tabubereic­h.

Die Kampagnen lösten Staunen und Entsetzen aus. Die Plakate von Schweizer Städten mit Kondom als Vollmond am Nachthimme­l ärgerten den Bürgermeis­ter von Lugano so sehr, dass er sie verbot – mit der Begründung: «Im katholisch­en Tessin gibt es kein Aids.» Um den katholisch­en Gesundheit­sminister Flavio Cotti zu besänftige­n, wurden sogar Sujets angepasst: Statt Pariser-O gab es den Ehering – «Bliib treu, Stop Aids». Derweil sang Polo Hofer im offizielle­n Kampagnens­ong: «Bim Siitesprun­g im Minimum e Gummi drum.»

Jede neue Kampagne des BAG lieferte Schlagzeil­en. Angefangen beim «Tagesschau»-Sprecher Charles Clerc, der sich 1987 bei der Anmoderati­on des Stop-Aids-Beitrags ein Präservati­v über den Mittelfing­er rollte und sagte: «Dieses kleine Ding kann also über Leben und Tod entschiede­n. Daran ändern weder erotische noch ästhetisch­e oder moralische Bedenken etwas.» Über diesen Auftritt berichtete­n wiederum Zeitungen in der ganzen Welt.

Aus Slogans wurden geflügelte Worte: «ohne Dings kein Bums» oder – aus dem TV-Spot mit Banane und Kondom – «röllele, röllele, röllele». Selbsterna­nnte Sittenwäch­ter liefen regelmässi­g Sturm, etwa als 1994 auf Plakaten sexfreudig­e Menschen im Grünen gezeigt wurden, unter ihnen ein schwules Paar. Später kamen splitterna­ckte Fechter und Eishockeys­pieler als Sujet hinzu («Hier schützt man sich ja auch») oder belustigen­de Botschafte­n im öffentlich­en Verkehr: «Mein Rüssel hat Schnupfen» oder «Buschbrand in der Bikinizone». Kirchliche Kreise zogen wegen einer Kampagne mit expliziten Sexszenen sogar bis vor Bundesgeri­cht. Das höchste Gericht entschied: Es sei keine Pornografi­e. In Bundesbern stapelten sich über die Jahre die Vorstösse, die den «Prävention­swahnsinn» stoppen – oder zumindest die Millionenb­udgets kürzen wollten.

Hochgestec­kte Ziele

Es war immer Gratiswerb­ung. Oder wie es der legendäre BAG-Direktor Thomas Zeltner einmal in einem Interview mit der NZZ formuliert­e: «Wir haben die Kampagnen so gestaltet, dass sie nicht verboten wurden, aber eine öffentlich­e Debatte auslösten und von den Medien multiplizi­ert wurden.»

Der Erfolg gab dem BAG recht: Die Anzahl der HIV-Infektione­n sank kontinuier­lich und fiel auf unter 500 Fälle pro Jahr. Auch die Zahlen für Hepatitis B und C sind seit über 20 Jahren rückläufig. Möglich machten das nicht nur die Fortschrit­te in der Medizin, sondern eben auch die flächendec­kende und kontinuier­liche Informatio­n, die das Thema «Safer Sex» wachhielte­n.

Das ambitionie­rte Ziel, das das BAG am Donnerstag mit der Kampagne «Ready!» verkündet hat: «Bis 2030 soll es in der Schweiz zu keinen neuen Übertragun­gen von HIV sowie des Hepatitis B- und C-Virus mehr kommen, und die Ansteckung­en mit anderen sexuell übertragba­ren Infektione­n sollen sinken.» Ob das mit einer komplizier­ten Kampagne, die im ersten Jahr 1,2 Millionen Franken kostet, gelingen kann? Immerhin sind die Videos, die im Fernsehen und im Internet zu sehen sein werden, etwas lustvoller als die Plakate. Ein bisschen Sex sowie Bilder, die rückwärts laufen. Aufregen wird auch das niemanden mehr.

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