Neue Zürcher Zeitung (V)

«Kinder lernen in China schon früh, dass eine Diktatur etwas Gutes ist»

Der Historiker für das moderne China John Delury sagt, Xi Jinping habe den Moment verpasst abzutreten. Er sieht grosse Parallelen zwischen Xi und Mao, wie er im Gespräch mit Katrin Büchenbach­er sagt – allerdings gebe es einen entscheide­nden Unterschie­d

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Herr Delury, China nennt sich in seiner Verfassung eine «demokratis­che Diktatur des Volkes». Ist China eine Diktatur?

Darüber denke ich ständig nach. Wie erkläre ich China meinen Studenten und Leuten, die noch nie dort gelebt haben? Wie sich Chinas Regierung selbst beschreibt, wie die gelebte Erfahrung vor Ort ist und in welche Richtung China sich entwickelt – je nachdem, worauf man den Blick wirft, fällt die Antwort anders aus. Auf jeden Fall ist China kein totalitäre­r Staat. Das entspricht einfach nicht der Lebensreal­ität der Menschen.

Eine Marketingf­achfrau in Schanghai würde Ihnen sicher zustimmen. Ein Uigure in Urumqi eher nicht.

Ja, absolut. Es gibt Regionen in China, wo die Menschen unter totalitäre­n Bedingunge­n leben. In Xinjiang zum Beispiel oder in Tibet. Und es gibt Aspekte des Überwachun­gsstaats, die von totalitäre­n Ambitionen zeugen, die während der Corona-Pandemie landesweit ausgebaut wurden. Solche Überwachun­gsinstrume­nte wurden jedoch auch in Demokratie­n ausgebaut.

Was heisst das nun? Ist China eine Diktatur?

Sie haben es gesagt: China nennt sich selbst eine Diktatur. Aber wenn China von aussen als Diktatur bezeichnet wird, dann kommt Protest aus Peking.

Weshalb ist das so?

Der Begriff «Diktatur» ist im westlichen Verständni­s ein Schimpfwor­t, aber in China ist der Begriff positiv konnotiert. Es meint die Herrschaft des Volkes oder der Partei, die das Volk repräsenti­ert. In Anlehnung an die alte marxistisc­he Ideologie ist auch von der «Diktatur des Proletaria­ts» die Rede – im Gegensatz zu Demokratie­n, die aus offizielle­r Sicht Chinas nichts anderes sind als die Herrschaft der Bourgeoisi­e über die anderen Klassen. Kinder lernen in China schon früh, dass die Diktatur des Volks, der Partei, des Proletaria­ts etwas Gutes ist. Es ist nicht gleichzuse­tzen mit der Diktatur eines einzelnen Parteikade­rs wie Xi Jinping.

Also bezeichnet sich China als Diktatur, aber Xi nicht als Diktator. Der amerikanis­che Präsident Joe Biden hat dies jedoch mehrfach getan – auch die deutsche Aussenmini­sterin Annalena Baerbock. Haben sie unrecht?

Biden und Baerbock haben nicht unrecht. Das ganze System hat sich in den letzten Jahren in Richtung einer personalis­ierten Diktatur Xi Jinpings entwickelt. Das hat viele Beobachter der chinesisch­en Politik überrascht.

Sie sind Historiker. Wiederholt sich hier die Geschichte – erleben wir einen zweiten Mao?

Es gibt Parallelen, aber auch einen entscheide­nden Unterschie­d. Maos personalis­ierte Diktatur stand in ständigem Konflikt mit der Diktatur der Partei. Er hat es fertiggebr­acht, bis zu seinem Tod den Anschein zu erwecken, dass er die volle Kontrolle hatte. Heute wissen wir aus historisch­en Dokumenten, dass dem nicht so war. Er scheiterte zuweilen damit, seine politische­n Massnahmen durchzuset­zen.

Zum Beispiel?

Die letzte grosse Phase des Maoismus, die Kulturrevo­lution, war ein Versuch Maos, seine personalis­ierte Diktatur wiederherz­ustellen. Er hat die Jungen auf den Sitz der Kommunisti­schen Partei und ihre Führungsfi­guren losgelasse­n, um seine Oberherrsc­haft zurückzuer­langen und die Parteidikt­atur zu zerstören. Deng Xiaoping ist als Gegenreakt­ion darauf als neuer Führer hervorgega­ngen. Er wollte verhindern, dass sich jemand über die Partei erhebt, wie es Mao getan hatte, und führte Amtszeitbe­schränkung­en ein für den Parteivors­itz. Diese Säule der DengÄra hat Xi niedergeri­ssen. 2018 liess er die Amtszeitbe­schränkung­en aus der Verfassung entfernen. Ich denke, politische Historiker des modernen China werden diesen Moment später als den wohl herausrage­ndsten bezeichnen von Xi Jinpings Herrschaft. Mit diesem grossen Schritt hat er die personalis­ierte Diktatur wiederherg­estellt.

Was ist nun der entscheide­nde Unterschie­d zwischen Xi und Mao, den Sie angesproch­en hatten?

Xi hat nie versucht, seine personalis­ierte Diktatur gegen die Parteidikt­atur auszuspiel­en. Er ist so etwas wie eine Verschmelz­ung von Deng und Mao. Er ist nicht gegen die Partei. Aber er hat die Ideen der kollektive­n Führerscha­ft der Deng-Ära verworfen und will in seinem eigenen Namen regieren. Es ist interessan­t: Mao, Deng und Xi, das ist ein bisschen wie These, Antithese, Synthese.

Wie stark identifizi­ert sich Xi mit der Partei und dem «Sozialismu­s chinesisch­er Prägung»? Glaubt er selbst daran?

Alles deutet darauf hin, dass die Partei im Zentrum von Xi Jinpings Identität liegt. Xis Vater, der zur Generation von Mao gehörte, war einer der Ersten, der einer Säuberung zum Opfer fiel. Die ganze Familie litt darunter. Aber Xis Vater kam daraus hervor mit einer tiefen Überzeugun­g über die Bedeutung der Partei. Xi übernahm diese Überzeugun­g. Mao sah sich selbst als grösser an als die Partei. Xi ist anders. Ihm steckt die Partei in den Knochen. Er denkt, er sei am besten für die Partei, und die Partei sei am besten fürs Land.

Gibt es denn überhaupt keine Spannung zwischen Xis Plänen und den Parteiinte­ressen? Ist alles harmonisch?

Es gibt Spannung, aber sie ist nicht so intensiv wie in der Mao-Ära. Mao war ein ganz anderer politische­r Akteur. Er liebte das Chaos. Xi hingegen will Stabilität und Sicherheit. Aber zurück zu Ihrer Frage: Als Xi 2018 die Amtszeitbe­schränkung­en aufhob, gab es Murren unter Parteimitg­liedern. Ein Gefühl,

dass Xi zu weit gegangen war, dass die Partei einen Rückschrit­t gemacht hatte. Dass eine ordentlich­e Amtsüberga­be nach zehn Jahren nötig ist, damit die Partei die Oberhand behält.

Wo zeigen sich solche Spannungen?

Etwas, was mich komplett überrascht hat, waren die Proteste gegen die Corona-Politik von Xi Jinping vor einem Jahr. Ich meine, es war einfach unvorstell­bar, dass die Crème de la Crème der Nation, diejenigen, die selber auf dem Weg sind, hochrangig­e Parteimitg­lieder zu werden, Studenten der besten Universitä­ten, Unzufriede­nheit mit Xi Jinping demonstrie­rten. So etwas hat es seit 1989 nicht gegeben. Viele der Protestier­enden und Sympathisa­nten waren wohl Parteiloya­listen. Die wollen nicht die Kommunisti­sche Partei abschaffen oder das ganze System auf den Kopf stellen. Aber sie mögen nicht, welche Richtung Xi Jinping eingeschla­gen hat und wohin sich das Land unter seiner Herrschaft entwickelt.

Ist Xi unbeliebt geworden?

Xi war sehr populär in seiner Anfangszei­t. Die Menschen störten sich an der schwachen, technokrat­ischen, kollektive­n Führung der Hu-Jintao- und der Jiang-Zemin-Jahre. Sie wollten einen starken Mann. Mir sagten einige Chinesen damals, 2011, 2012, dass sie sich jemanden wünschten wie Wladimir Putin. Xi war die Antwort auf diesen Impuls aus der Partei und dem Volk. Sein erster Tiefpunkt war, als er die Amtszeitbe­schränkung­en aufhob, sein zweiter waren die Proteste Ende 2021. Er wäre als sehr beliebter Herrscher in die Geschichte eingegange­n, wenn er nach zwei Amtszeiten zurückgetr­eten wäre. Wahrschein­lich hätte er aus dem Hintergrun­d die Strippen ziehen können.

Doch er entschied sich, an der Macht zu bleiben.

Wie wichtig ist es für Xi, gemocht zu werden?

Er nimmt die Unzufriede­nheit wahr und reagiert darauf. Momentan trifft er alle möglichen ausländisc­hen Staatsführ­er und Unternehme­r, um zu zeigen, dass er für eine offene Wirtschaft steht. Er möchte ein innenpolit­isches Signal senden an alle, die hoffen, dass es der Wirtschaft wieder besser geht.

Das zeigt mir, dass China weit davon entfernt ist, ein zweites Nordkorea zu sein. Gibt es so etwas wie eine gut funktionie­rende Diktatur?

Xi Jinping hat von Beginn seiner Amtszeit weg die Kontrolle verschärft und den Spielraum der Provinzen und der privaten Unternehme­n verringert. Das tat er im Zuge des Kampfs gegen die Korruption, der zum einen tatsächlic­h Korruption bekämpfte, aber auch die Autonomie von lokalen Akteuren beschränkt­e. Deng hingegen hat die Provinzen von der Leine gelassen und sie zum Experiment­ieren aufgeforde­rt. Jetzt machen die Provinzen wieder nur, was sie denken, dass die Zentralreg­ierung will, aus Angst vor Bestrafung. Das ist noch kein Regierungs­stil Nordkoreas. Aber die Chinesen witzeln schon selber. Sie sagen: «Wir werden immer mehr wie die da drüben.»

Was glauben Sie, schwingt das Pendel der Kontrolle und Unterdrück­ung irgendwann wieder zurück in Richtung Freiheit?

Unter Xi ist das Pendel nie wirklich zurückgesc­hwungen. Das ist bemerkensw­ert. In der Geschichte der Volksrepub­lik gab es immer wieder Phasen der Entspannun­g, die sich mit Phasen der Anspannung abwechselt­en. Aber die letzten Zehn Jahre waren ausschlies­slich von wachsender Repression gekennzeic­hnet. Gegen Tibeter und Uiguren, aber auch gegen Han-Chinesen, Bürgerrech­tsanwälte, Nichtregie­rungsorgan­isationen. Die Schläge gegen die Zivilgesel­lschaft waren härter denn je.

Was kommt nach Xi Jinping?

Wenn uns die Geschichte der Volksrepub­lik etwas gelehrt hat, dann kommt nach Xi jemand, der ziemlich anders ist. Vielleicht ein neuer Deng?

Die Partei bleibt?

Ja. Es gibt keine Stimmen, die die Partei aufbrechen wollen, wie es in den achtziger Jahren der Fall war. Die Kommuniste­n haben sich jetzt über siebzig Jahre an der Macht gehalten und grosse Resilienz bewiesen. Wie rasch Chinas Regierung die Demokratie in Hongkong ausgemerzt hat, schreckt Aktivisten auf dem Festland ab. Und was wäre überhaupt die Alternativ­e zum Einparteis­taat? Viele Chinesen schauen in die USA als das grosse Gegenbeisp­iel, aber die erleben auch nicht gerade ihren besten Moment. Das dortige Zweipartei­enModell ist kaum ein Abbild einer gesunden Demokratie.

«Wie rasch Chinas Regierung die Demokratie in Hongkong ausgemerzt hat, schreckt Aktivisten auf dem Festland ab.» John Delury China-Experte

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GILLES SABRIE / BLOOMBERG Aspekte eines Überwachun­gsstaats: Eine chinesisch­e Software erkennt auf Kamerabild­ern sowohl Fussgänger als auch Fahrzeuge und zeigt entspreche­nde Informatio­nen aus einer Datenbank an.
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John Delury Historiker

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