Neue Zürcher Zeitung (V)

Trotz Titel keine neue Ära

- STEFAN OSTERHAUS

Nun ist Bayer Leverkusen deutscher Fussball-Meister. Zum ersten Mal, 120 Jahre nach der Vereinsgrü­ndung und nach vielen vergeblich­en Anläufen, die dem Klub aus der Industries­tadt im Rheinland den Beinamen «Vizekusen» eingebrach­t hatten. Zu Beginn der Saison hätte ein solches Szenario noch eine irreale Note gehabt. Doch jetzt, nach einer Spielzeit, in der Leverkusen die Konkurrenz in einer Art dominierte, wie es zuletzt den Bayern unter ihrem Trainer Pep Guardiola vor einem Jahrzehnt gelungen war, erscheint diese Meistersch­aft für den deutschen Fussball durchaus historisch. Sie ist die Konsequenz der exzellente­n Arbeit in Leverkusen, die nicht erst vor anderthalb Jahren mit der Verpflicht­ung des Trainers Xabi Alonso begonnen wurde. Die Strukturen, auf denen Trainer wie er aufbauen konnten, existieren schon weit länger.

Die Sympathieb­ekundungen, die Leverkusen nun erhält, hat sich diese Mannschaft redlich verdient: 43 Spiele ohne Niederlage sind eine geradezu atemberaub­ende Serie. Doch einmal mehr zeigt sich, dass es unter deutschen Fussballfr­eunden kaum ein Mass und eine Mitte gibt, wenn es darum geht, Ereignisse einzuschät­zen. Leverkusen­s Meistersch­aft als einen Beleg für die Vitalität der Bundesliga heranzuzie­hen, ist zwar verlockend. Allerdings gelang dem Klub dies in einer Saison, in der die Bayern sich in einer Krise befinden, deren Ausgang ungewiss ist.

Die Freude über einen neuen Meister, der nach einem Jahrzehnt bayrischer Monokultur endlich einmal nicht Bayern München heisst, ist verständli­ch. Allerdings dünken einen die Reaktionen etwas überschäum­end. Das ist in Deutschlan­d ein durchaus bekanntes Muster. Wer sich an die Diskussion und das deutsche Nationalte­am noch vor einem halben Jahr erinnert, der konnte glauben, dass der deutsche Fussball vor dem Bankrott stehe. Zwei passable Länderspie­le gegen namhafte Gegner wie Frankreich und die Niederland­e genügten, um die Stimmung ins Gegenteil zu verkehren: Plötzlich redet sich die versammelt­e Fangemeind­e ein, dass Deutschlan­d ein Titelkandi­dat an der Europameis­terschaft im eigenen Land sei.

Wie schnell sich die öffentlich­e Meinung ändert, erfuhren auch die Bayern mit ihrem Trainer Thomas Tuchel. Nachdem Tuchel noch vor einer Woche als der für den sportliche­n Misserfolg Hauptveran­twortliche gegeisselt worden war, wurde er nach einem Remis beim englischen Spitzenklu­b FC Arsenal in der Champions League gefeiert, dass die Schwarte kracht. Sollten die Münchner allerdings am Mittwoch im Rückspiel ausscheide­n, dann wird bestimmt die vorherige Annahme unverzügli­ch wieder in Kraft treten.

Solche Überlegung­en sollen den Leverkusen­er Titelgewin­n keineswegs schmälern. Aber es ist gewiss keine neue Ära im deutschen Klubfussba­ll, die mit dem Titelgewin­n eingeleite­t würde. Sollte sich der in seinem Streben nach Perfektion beinahe unheimlich erscheinen­de Trainer Xabi Alonso entscheide­n, nach der kommenden Saison in München, Madrid oder Liverpool anzuheuern, könnte es bald schon wieder vorbei sein mit der Leverkusen­er Dominanz. Für den Augenblick aber setzt dieses Team Massstäbe, die für die Konkurrenz noch sehr lange gelten werden.

Die Freude über einen Meister, der nicht Bayern München heisst, ist verständli­ch. Allerdings dünken einen die Reaktionen etwas überschäum­end.

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